29.04.2022
Die Innovationsmuskeln trainieren
Im „Fit for 55“-Interview beschreibt Prof. Dr. Katharina Hölzle, eine der führenden Innovationsforscherinnen in Deutschland, wie der Betriebsklimawandel gelingt.
Immer häufiger stellen Unternehmen ESG Ziele auch intern in den Mittelpunkt – wie sieht ein idealer Weg aus, um Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf diesem Weg mitzunehmen und aktiv einzubinden?
Hölzle: Grundsätzlich ist dies zunächst eine Frage nach dem internen Strategieprozess. Lehrbuchmäßig verlaufen Strategieprozesse aus zwei Richtungen, entweder Top-down oder Bottom-up. Zentral für eine erfolgreiche Strategieimplementierung ist dabei immer die Einbindung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aber auch das Vorgeben eines klaren Rahmens, der sich an ökonomischen, ökologischen und sozialen Leitlinien bzw. Problemstellungen orientiert. Wenn das Management solche Leitlinien definiert und den Mitarbeitenden dann entsprechend Freiräume gibt, für ihre Abteilungen oder Teams Ideen zu entwickeln wie sie die Probleme adressieren oder Vorgaben umsetzen wollen, ist ein erster Baustein zur Reflektion, Aktivierung und Problemlösung bereits gegeben.
Gerade bei den ESG-Zielen sehen wir häufig, dass Mitarbeitende und Führungskräfte grundsätzlich ein gutes Verständnis für die Herausforderungen der Nachhaltigkeit haben, es vielen aber schwerfällt, den Abstraktions- oder Detailierungsgrad richtig zu wählen. Lassen Sie mich ein Beispiel geben. Wenn ein mittelständischer Pumpenhersteller morgen beschließt, seine Produktion klimaneutral zu machen, dann hat diese Entscheidung bedeutende Auswirkungen auf die Organisation, die Prozesse und die Kosten des Unternehmens. Das Management wäre in diesem Fall gut beraten, in allen Abteilungen die Frage zu stellen: „Was bedeutet für uns die Umstellung der Produktion mit Blick auf weniger Energieverbrauch, der Einsatz anderer Materialien, etc.?“. Nur wenn das Fachwissen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Anfang an in die Neupositionierung und Neuaufstellung mit eingebunden wird, wird der Veränderungsprozess als gemeinsame Anstrengung gesehen und entsprechend motiviert werden sich die Mitarbeitenden einbringen.
Das Management ist gut beraten, die Mitarbeitenden von Anfang in den Veränderungsprozess einzubeziehen.
Wie bringt man Nachhaltigkeit in die Köpfe der Mitarbeiter, dass sie im Sinne des Unternehmens auch so handeln und den nachhaltigen Kurs des Unternehmens unterstützen?
Hölzle: Die Unternehmensführung sollte zu Beginn überlegen, welche Aspekte der Nachhaltigkeit als besonders relevant für das Unternehmen gesehen werden. Hier kann durchaus auch eine zeitliche Abstufung vorgenommen werden. Diese finden Eingang in die Strategie des Unternehmens und formulieren erste mögliche Umsetzungsprojekte.
Parallel dazu findet Wissensaufbau und Wissensvermittlung statt. Hier hilft es wirklich, am Anfang ein wenig mehr Zeit und Ressourcen in eine umfassende Information zu stecken, also was sagt die Wissenschaft und Forschung allgemein zu dem Thema, welche konkreten Beispiele gibt es für Unternehmen, in unserer und anderen Branchen und welche davon passen vielleicht besonders gut auf unser Unternehmen? Diese sollten in den Kontext des Unternehmens übersetzt und entsprechend visualisiert oder mit Beispielen belegt werden. Danach wird eine breite Kommunikationskampagne gestartet, um alle Mitarbeitenden zu informieren und ein einheitliches Unternehmensverständnis für Nachhaltigkeit zu erzeugen. Anschließend gibt es dann mehrere Möglichkeiten: entweder das Management bestimmt (Top-down) einige Pilotprojekte zur Umsetzung oder die Belegschaft findet und bestimmt in einem Crowd-Ansatz (Bottom-up) Themenstellungen, die sie als erstes bearbeiten wollen. Möglich ist natürlich auch eine Mischung aus beiden Ansätzen. Wichtig, wie bei jedem Veränderungsprojekt, ist die aktive Ansprache und Einbindung der Mitarbeitenden und das klare Commitment der Führung, diesen Wandel zu treiben, auch wenn es am Anfang vielleicht Rückschläge gibt.
Was müssen und wieviel müssen die Vorgesetzen vorleben damit alle an einem Strang ziehen? Inwiefern kann das Thema auch von der Basis vorangetrieben werden?
Hölzle: Wie immer bei Veränderungsthemen ist Ehrlichkeit und Glaubwürdigkeit ein wichtiger Erfolgsfaktor. Wenn ich von meinen Mitarbeitenden nachhaltige Mobilität fordere, selbst aber jede Geschäftsreise mit dem Flugzeug mache oder den größten Dienstwagen fahre, ist das nicht sehr überzeugend. Alle Organisationen haben erfahren, dass insbesondere die junge Generation sehr kritisch tradierte und eingefahrene Statussymbole, Prozesse und Strukturen in Frage stellt. Dies ist beim Thema Nachhaltigkeit noch einmal multipliziert. Das ist häufig anstrengend, weil es eine permanente Reflektion und Diskussion erfordert, schafft aber durch Iteration und konstante Adaption Aktualität und eine breite Akzeptanz des Themas. Durch den Diskurs findet gleichzeitig auch eine wichtige Lernerfahrung statt, dass das Thema Nachhaltigkeit nicht „einfach“ und nicht linear ist, sondern von einer Vielzahl von Einflussgrößen abhängt und in einer Vielzahl von Ausprägungen erscheint. Dies gilt übrigens für viele aktuelle Themen.
Jede Innovation fängt klein an.
Die von Ihnen angesprochene „Basis“ ist ein wichtiger Treiber der Veränderung. Ich sprach es schon an, ohne ihr Commitment und ihre Bereitschaft wird es nicht funktionieren. Ebenso entstehen hier häufig Ideen, die sich im Arbeitsalltag ohne großen Aufwand umsetzen lassen. Und last but not least fängt jede Innovation klein an.
Digitalisierung, Agilität und jetzt Nachhaltigkeit – wie meistern Unternehmen und Mitarbeiter die verschiedenen Facetten der Veränderung und insbesondere den Betriebsklimawandel?
Hölzle: Die Zeit der Linearität, der einfachen Antworten, der kausalen Prozesse ist vorbei. Wir leben in einer volatilen, unsicheren, komplexen und dynamischen Welt, die mit einer Vielzahl an Herausforderungen auf uns wartet. Wenn wir diese Herausforderungen als lösbar erleben und aktiv an einer Problemlösung arbeiten, trainiert dies unsere „Innovationsmuskeln“ und bereitet den Einzelnen und das Unternehmen auf die nächste Veränderung vor. Eine offene, unterstützende Unternehmenskultur, bei der sich die Mitarbeitenden ernst genommen fühlen, gemeinsam an Problemlösungen arbeiten können und erleben, dass sie auch einmal scheitern dürfen, weil es den einen richtigen Weg nicht gibt, ist ein wichtiger Faktor für den Wandel.
Der nachhaltige Kulturwandel gilt nicht nur für große Unternehmen – hat es der Mittelstand da unter Umständen leichter?
Hölzle: Das kommt darauf an. Wenn die Führung des mittelständischen Unternehmens eine offene, progressive und wertschätzende Unternehmenskultur geschaffen hat, dann ja. Mittelständische Firmen zeichnen sich (meistens) durch kurze, direkte Entscheidungswege aus, ein hohes Commitment und Betriebsidentifikation der Mitarbeitenden und eine sehr viel direktere Feedbackkultur. Diese Faktoren sind wichtig für eine nachhaltige Kultur. Wenn es sich aber um ein traditionell konservatives Unternehmen handelt, bei dem große Sorge in der Unternehmensleitung vor Partizipation und Machtverlust herrscht, dann nein.
Zur Person:
Prof. Dr. Katharina Hölzle ist eine der führenden Innovationsforscherinnen in Deutschland für Digitalisierung, disruptive Innovationen und den daraus resultierenden Folgen für Organisationen. Seit dem 1. April 2022 ist sie Professorin für Technologiemanagement und Arbeitswissenschaft an der Universität Stuttgart, Institutsleiterin des Instituts für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement (IAT) sowie Institutsleiterin des Fraunhofer Instituts für Arbeitswissenschaft und Organisation (IAO).