EU-Taxonomie gefährdet die Energiewende in Deutschland

Warum neue Gaskraftwerke gegen den Klimawandel helfen, ein Revival des Atomstroms aber nicht: „Fit for 55“-Interview mit Julian Schorpp, Energieexperte des DIHK.

Julian Schorpp, Energie- und Klimaexperte des DIHK

Der European Green Deal, und damit das Programm „Fit for 55“, ist eng verknüpft mit der EU-Taxonomie, einem Klassifizierungssystem für nachhaltige Investments. Gerade erst wurden im Europäischen Parlament die ersten Änderungsanträge des Programmes „Fit vor 55“ behandelt. Zeitgleich hat die EU-Kommission angekündigt, Gaskraftwerke und Atommeiler in der Taxonomie als „grüne Investitionen“ einzustufen. Seitdem gibt es Streit zwischen Berlin und Brüssel. Die Folgen für die deutsche Wirtschaft erklärt Julian Schorpp, Leiter des Referats Europäische Energie- und Klimapolitik beim Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) in Brüssel.

LBBW: Herr Schorpp, die EU-Kommission hat eine Kontroverse ausgelöst: Neben Erdgas soll auch Atomstrom ein grünes Investitionslabel bekommen. Was würde so ein Standard für das ökologische Wirtschaften bedeuten?

Julian Schorpp: Sie sprechen hier die Taxonomie der EU an. Dahinter verbarg sich ursprünglich das Vorhaben, innerhalb Europas einheitliche Kriterien festzulegen, anhand derer wirtschaftliche Tätigkeiten zukünftig auf den Finanzmärkten als nachhaltig eingestuft werden können.

Mittlerweile wird deutlich, dass die Taxonomie eine viel breitere Anwendung finden wird. Auch staatliche Förderung wird absehbar an den Kriterien der Taxonomie ausgerichtet werden. Zudem dürften schon sehr bald viele Unternehmen, selbst KMU, unter anderem Kreditinstituten berichten müssen, ob sie unter die Taxonomie fallen und inwiefern sie die dort festgelegten Nachhaltigkeitskriterien einhalten.

Perspektivisch werden sich die Finanzierungsbedingungen für Projekte und Unternehmen, die die Kriterien nicht einhalten, verschlechtern. Und gleichzeitig für diejenigen mit positivem Taxonomie-Stempel verbessern. Denn die Regulatorik setzt für die Banken und sonstige Finanzmarktakteure klare Anreize, möglichst „Taxonomie-konforme“ Tätigkeiten zu finanzieren. Der kurz vor Jahresende vorgelegte Entwurf eines delegierten Rechtsakts zur Beurteilung von Gaskraftwerken und Kernenergie muss vor diesem Hintergrund betrachtet werden.

LBBW: Welche Stimmung herrscht in der Industrie? Werden die neuen Taxonomie-Vorschläge eher kritisch oder eher positiv gesehen?

Schorpp: Fast alle Experten und Stakeholder sind sich einig, dass es in den nächsten Jahren einen erheblichen Zubau von Gaskraftwerken geben muss, um trotz Atom- und Kohleausstieg in Deutschland die Versorgungssicherheit für die Wirtschaft sicherzustellen.

Dass die Verstromung von Erdgas in einer Übergangszeit als nachhaltig eingestuft werden kann, ist daher aus Sicht der allermeisten Unternehmen richtig. Doch das genügt noch lange nicht. Denn die konkreten von der Europäischen Kommission vorgelegten Nachhaltigkeitskriterien für die Erdgaskraftwerke passen nicht zu den Notwendigkeiten der deutschen Energiewende.

Die Kommission schlägt Kriterien vor, die die meisten Investitionen in Gaskraftwerke von einer Taxonomie-Konformität ausschließen würden. So soll ein Gaskraftwerk nur dann als nachhaltig gelten, wenn das investierende Unternehmen zugleich ein älteres, emissionsintensiveres Kraftwerk vom Netz nimmt. Wer also kein älteres Kraftwerk besitzt, kann damit faktisch gar nicht unter Einhaltung der Taxonomie-Vorgaben in ein modernes, hocheffizientes Erdgaskraftwerk investieren.

Ebenso kritisch sind die strengen Anforderungen für den Einsatz von erneuerbaren und CO₂-armen Gasen in den Kraftwerken. Deren Anteil soll bereits ab 2026 30 Prozent erreichen, um dann fossiles Erdgas als Brennstoff ab 2035 vollständig zu ersetzen. Dies ist aus heutiger Sicht weder einhaltbar noch zielführend für die gesamte Wirtschaft. Denn klimafreundlicher Wasserstoff wird in diesen Zeiträumen noch nicht in den nötigen Mengen vorhanden sein und prioritär erst in der energieintensiven Industrie und im Schwerlastverkehr zum Einsatz kommen. Dort gibt es bislang keine Alternativen für die Vermeidung von Treibhausgasen.

LBBW: Gerät damit das Ziel des „Green Deal“ durch umgeleitete Geldströme, möglicherweise hin zur Atomkraft, in Gefahr?

Schorpp: Unter dem Strich befürchtet der DIHK, dass die Regelungen des Entwurfs die Energiewende in Deutschland nicht beschleunigen, sondern verlangsamen und verteuern würden. Deutschland wird nicht innerhalb kurzer Zeit aus Atomkraft, Kohle und zusätzlich Erdgas aussteigen können. Gaskraftwerke können perspektivisch klimaneutral Strom erzeugen, wenn sie mit klimafreundlichem Wasserstoff oder Biogas betrieben werden. Deswegen handelt es sich bei solchen Investitionen auch nicht um „stranded assets“.

Zur Kernenergie gilt es nüchtern festzustellen, dass die Diskussion in Deutschland abgeschlossen ist. Anders in einer Reihe von Mitgliedstaaten der EU, die auf Laufzeitverlängerungen und vor allem den Neubau von Kernkraftwerken setzen. Denn die CO₂-Emissionen der Kernenergie sind sehr niedrig. Sie können daher aus Sicht dieser Länder einen Beitrag zur Erreichung der Klimaziele leisten.

Für die deutsche Wirtschaft ist relevant, dass der Kommissionsvorschlag vorsieht, auch Wasserstoff aus Kernenergie als nachhaltig einzustufen. Länder mit Atom-Wasserstoff könnten diesen dann für die Dekarbonisierung ihrer Industrie nutzen. Das kann für diese Länder ein Wettbewerbsvorteil werden. Letzten Endes hängt das aber davon ab, wie schnell Wasserstoff aus erneuerbaren Energien wirtschaftlich wird.

LBBW: Was bedeutet das für das Programm „Fit for 55“, den CO₂-Ausstoß bis 2030 um 55 Prozent gegenüber 1990 zu verringern?

Schorpp: In Deutschland würde die Erreichung der Klimaziele für das Jahr 2030 durch die vorgelegten Regelungen eher erschwert. Denn die modernen Gaskraftwerke sollen auch Kraftwerkskapazitäten ersetzen, die im Zuge des Kohleausstiegs vom Netz gehen. Wenn diese aber nicht oder nur sehr teuer zu finanzieren sind, wird es schwer, die Kohlekraftwerke vom Netz zu nehmen.

Absolute Priorität für die Wirtschaft hat selbstverständlich der Ausbau der erneuerbaren Energien. Aber schon das nun von der neuen Ampelkoalition definierte Ziel, bis 2030 80 Prozent des Stromverbrauchs aus erneuerbaren Energien zu decken, erfordert eine in den letzten 20 Jahren niemals erreichte Ausbaugeschwindigkeit.

Deutschland dürfte daher um einen Sockel gesicherter Gaskraftwerksleistung auf absehbare Zeit nicht herumkommen. Und wie gesagt: Wenn diese in ausreichenden Mengen zur Verfügung stehen, werden die Kraftwerke mit klimafreundlichen Gasen betrieben. Sie dienen dann im Stromsystem als Backup für Zeiten, in denen der Wind nicht bläst oder die Sonne nicht scheint.