„Da haben wir uns gerne geirrt“

Der Krieg in der Ukraine hat für tief pessimistische Wachstumsprognosen gesorgt. Warum sie nach und nach revidiert werden, erklärt LBBW-Chefökonom Moritz Kraemer.

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LBBW Standpunkt: Herr Kraemer, in der Nacht des 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine überfallen. Seitdem herrscht Krieg in Europa.

Moritz Kraemer: Die Tyrannei macht mich immer noch fassungs- und sprachlos. Der 24. Februar 2022 wird auf ewig für den Start eines sehr traurigen Kapitels in den europäischen Geschichtsbüchern stehen.

LBBW Standpunkt: Laut Vereinten Nationen hat dieser Krieg zur mittlerweile größten Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg geführt. Sechs Millionen Menschen haben die Ukraine verlassen, weitere acht Millionen Menschen sind aus den Kriegsgebieten im Osten der Ukraine in den Westen des Landes geflohen.

Kraemer: Das Leid ist unvorstellbar und die Folgen werden noch Jahrzehnte in der Ukraine spürbar sein.

Dr. Moritz Kraemer Chefvolkswirt und Leiter des Bereichs Research

Die Rezession wird nicht so schlimm werden wie gedacht, aber kommen wird sie.

Dr. Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der LBBW

LBBW Standpunkt: Der Krieg beherrscht nicht mehr jeden Tag die Schlagzeilen. Und die seinerzeit prognostizierten Folgen für Deutschland und die deutsche Wirtschaft sind offenbar auch nicht in ihrer ganzen Dramatik eingetreten. Oder täuscht der Eindruck?

Kraemer: Damals hatten alle Prognosen zumindest auch die ganz pessimistischen Szenarien mit im Gepäck. Die sind Gott sei Dank bislang aber nicht eingetreten.

LBBW Standpunkt: Was meinen Sie genau?

Kraemer: Es stand – und steht leider immer noch – die territoriale Eskalation des Kriegs im Raum. Zudem war und ist nicht klar, ob es zum Einsatz von taktischen Atomwaffen kommt. Und als die Pipeline in der Ostsee explodierte, stand natürlich die Frage im Raum: Was, wenn jetzt auch die norwegische Pipeline attackiert wird? Es ging um das Einpreisen von kompletten Shutdowns, weil die Energie knapp wird. Zudem hatten wir Inflationsraten in die Modelle mit aufzunehmen, die wir jahrzehntelang in Europa nicht gesehen hatten. Und obendrauf kam dann auch die Zinswende. Viele gerade jüngere Menschen kannten den Begriff von Zinsen ja nur aus Erzählungen von älteren Kollegen. Diese Unklarheiten mussten damals in die Prognosen mit aufgenommen werden.

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Der bislang milde Winter hat uns allen das Fell gerettet.

Dr. Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der LBBW

LBBW Standpunkt: Inzwischen hat die Realität die Prognosen eingeholt. Die deutsche Wirtschaft ist nicht so geschrumpft wie das alle Experten gemutmaßt haben.

Kraemer: Das ist ja erst mal eine tolle Nachricht. Da haben wir uns gerne geirrt. Die deutsche Wirtschaft hat sich als viel resilienter bewiesen, als es zu erwarten war. Da haben sicher auch die Staatshilfen ihre Wirkung gezeigt. Und man darf auch nicht vergessen: Der bislang milde Winter hat uns allen das Fell gerettet. Hätten wir einen Jahrhundertwinter gehabt, würden wir jetzt ein anderes Gespräch führen müssen.

LBBW Standpunkt: Kalt kann es ja noch werden …

Kraemer: Wir haben jüngst auch unsere Prognose in unserem LBBW-Kapitalmarktkompass revidiert – zum Besseren: Wachstum rauf, Inflation runter. Gut möglich, dass wir gegen Ende des Jahres bei der Inflation wieder eine Zwei vor dem Komma sehen werden. Und wenn sich irgendetwas Positives aus dem Krieg ableiten lässt, dann, dass die Energiewende noch akuter in den Fokus der Politik geraten ist.

LBBW Standpunkt: Der Kölner würde sagen: „Et hätt noch emmer joot jejange …“

Kraemer: Na ja. Langsam rücken wieder die strukturellen Themen in den Vordergrund, die für Deutschlands Wettbewerbsposition in der Zukunft wichtig sind. Wir stehen vor einem durchaus als dramatisch anzusehenden Wandel am Arbeitsmarkt, wenn in den kommenden Jahren Millionen von Babyboomern den Jobmarkt verlassen …

LBBW Standpunkt: Unter Mittelständlern geht das Bonmot von Arbeiterlosigkeit um …

Kraemer: Das ist schon jetzt ein gewaltiges Problem und ist sicher zu einer veritablen Wachstumsbremse geworden. Das wird sich in den kommenden Jahren massiv verstärken. Und immer öfter war gerade in jüngerer Vergangenheit vom Demografieproblem zu lesen und zu hören. Das war angesichts von erst Covid und dann Krieg jahrelang kein dominierendes Thema.

LBBW Standpunkt: Also doch nicht alles so gut? Der DAX hat seit Jahresbeginn rund 10 Prozent zugelegt.

Kraemer: Das ist eine übertriebene Rally zu Jahresbeginn und ich gehe auch noch von einer Korrektur der Kurse aus. Spätestens wenn das Alarmsignal für Gewinnmitnahmen läutet. Denn die Rezession ist ja noch gar nicht da. Sie wird nicht so schlimm werden wie gedacht, aber kommen wird sie. Die Märkte aber scheinen eine Entscheidung getroffen zu haben auf die Frage: Wird uns der Krieg in der Ukraine noch hart treffen?

LBBW Standpunkt: Und wie lautet die Antwort?

Kraemer: Nein!