08.03.2024
Wir könnten bei wichtigen Technologien den Anschluss verlieren
Wie kommt Deutschland beim Ausbau erneuerbarer Energien voran? Darüber sprechen wir mit Dr. Simone Peter, Präsidentin des Bundesverbands Erneuerbare Energie.
Standpunkt: 52 Prozent des Bruttostromverbrauches wurden im vergangenen Jahr mit erneuerbaren Energien erzielt. Liegt Deutschland damit im Plan?
Simone Peter: Ja, es geht voran. Wir sind nach langer Talfahrt wieder auf einem guten Weg. Der Solarausbau boomt und auch die Windenergie nimmt wieder an Fahrt auf. Ein sicherer Indikator dafür sind die steigenden Genehmigungen, die den Ausbau der kommenden Jahre bestimmen. Noch sind wir jedoch bei diesen beiden Zugpferden der Energiewende nicht am Ziel. Genehmigungsverfahren dauern noch immer zu lange und auch andere bürokratische Hemmnisse stehen im Weg.
Standpunkt: 2030 sollen 80 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Quellen kommen. Was fehlt uns noch, um dieses Ziel zu erreichen?
Simone Peter: Jetzt sind die letzten regulatorischen Hemmnisse zur Entfesselung von Solar- und Windenergie in allen Bundesländern zu beseitigen, der Netzausbau voranzubringen, Flexibilität anzureizen und Speicher auszubauen, die dann einspringen, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint. Energie aus heimischer Biomasse, Wasserkraft und Geothermie sowie Speicher und Elektrolyseuren sind günstiger, schneller und resilienter zu haben.
Standpunkt: Schaffen wir es damit vielleicht sogar, 100 Prozent des Stromverbrauches „erneuerbar“ zu erzeugen?
Simone Peter: Wir können nicht nur 100 Prozent unseres Strombedarfs, sondern 100 Prozent unseres gesamten Energiebedarfs (auch Wärme und Moleküle) mit erneuerbaren Energien decken. Und die gute Nachricht ist auch: 100 Prozent erneuerbare Energien stehen auch weitgehend heimisch bereit, wie unsere Studie „Klimaneutrales Stromsystem“ gezeigt hat. Das reduziert Kosten für Importe, aber auch nationale Infrastruktur enorm.
Standpunkt: Kritiker bemängeln die nichtkonstante Verfügbarkeit der Erneuerbaren im Winter, Stichwort: Dunkelflaute. Deswegen sollen mindestens 10 Gigawatt an Leistung durch neue Gaskraftwerke als Reserve gebaut werden. Warum werden nicht die schon vorhandenen Biogasanlagen dafür genutzt?
Simone Peter: Tatsächlich haben wir die Bundesregierung in den vergangenen Monaten immer wieder auf die günstigeren Potenziale der Erneuerbaren hingewiesen, die über ganz Deutschland verteilt schlummern. Wir sitzen auf einem echten Schatz an Biogas- und Wasserkraftwerken, die nur darauf warten, als flexibles Back-up für Solar und Wind agieren zu können. Allein die Bioenergie könnte durch Flexibilisierung kurzfristig bis 2030 zwölf Gigawatt und bis 2045 sogar 24 Gigawatt an steuerbarer Leistung zur Verfügung stellen, ohne mehr Biomasseanbau. Wasserkraftanlagen könnten sofort ein bis zwei Gigawatt flexibler Leistung bereitstellen.
Der EU ist auf dem langen Weg zu einer Antwort auf den Inflation Reduction Act der USA leider die Puste ausgegangen.
Standpunkt: Um Deutschland klimaneutral zu machen, wären neue fossile Kraftwerke kontraproduktiv – es sei denn, wir betreiben sie mit grünem Wasserstoff. Ist das überhaupt realistisch oder sind wir schon zu spät dran?
Simone Peter: Wir sind spät, aber nicht zu spät. Es muss jetzt vor allem darum gehen, die Kraftwerksstrategie um die Potenziale der Bioenergie zu ergänzen und den Anlagen damit auch eine klare Zukunftsperspektive zu geben. Worst Case wäre, wenn wir bestehende Biogasanlagen ohne Not verlieren und stattdessen neue Gaskraftwerke bauen, die bis mindestens 2035 mit Erdgas betrieben werden.
Standpunkt: Noch sind wir abhängig von Stromimporten und damit von Atomstrom aus Frankreich …
Simone Peter: Die Mär von der Abhängigkeit von französischem Atomstrom wurde von Befürwortern der Kernenergie im Zuge des Atomausstiegs in die Welt gesetzt. Dabei haben wir im Jahr des Atomausstiegs – 2023 – insgesamt nur 2 Prozent unseres Bedarfs importiert. Davon kam wiederum nur ein Viertel aus Frankreich. Der Großteil des Stroms stammte aus erneuerbaren Anlagen im Norden Europas. Diese haben übrigens auch unseren Kohlestrom verdrängt. Deutschland hat aber auch ohne die Importe genügend Kraftwerksleistung, um sich mühelos zu 100 Prozent selbst zu versorgen. Es wäre aber viel zu teuer, unsere Kohle- und Gaskraftwerke laufen zu lassen, obwohl im europäischen Strommarkt günstigere erneuerbare Quellen vorhanden sind. In der EU fließt in jeder Sekunde Strom in verschiedenen Richtungen über die Grenzen zwischen den Ländern – und der Preis bestimmt dabei die Richtung. So kann es sein, dass wir Strom nach Frankreich exportieren und gleichzeitig Strom aus Dänemark importieren, oder umgekehrt. Die französischen Kernkraftwerke sind in den meisten Stunden aber schlicht zu teuer, als dass wir ihren Strom kaufen würden. 2024 hat sich das Verhältnis wieder gedreht: Bis jetzt haben wir mehr Strom an unsere Nachbarländer exportiert als importiert.
Abwanderungen von Solartechnik werden wir bitter bereuen und teurer bezahlen.
Standpunkt: Deutschland fehlen die Stromautobahnen von Nord nach Süd, dazu stoppt ein hoher Strompreis gerade die Industrie, aber auch die Bürger bei der Transformation. Welche Forderungen an die Politik kommen da aus Ihrem Verband?
Simone Peter: Beim Windkraft- und Netzausbau sind wir aus dem tiefen Tal raus, hier geht es voran. Aber natürlich muss noch mehr passieren, um die Ziele zu erreichen, zum Beispiel auch eine Reform der Netzentgelte. Um die Strompreise zu senken, gibt es vor allem ein nachhaltiges Mittel: Alle Erneuerbaren möglichst dezentral weiter ausbauen. Schuld an den hohen Preisen waren schließlich die fossilen Energien, insbesondere unsere Abhängigkeit von russischem Gas. Der Ausbau muss von einer Reform flankiert werden, die unseren Strommarkt fit für 100 Prozent Erneuerbare macht.
Standpunkt: Welche Rolle spielen das Speichern, etwa über Batterien, für die Transformation hin zu einem klimaneutralen Deutschland?
Simone Peter: Auch hier ist noch Luft nach oben. Speicher können im Stromsystem verschiedene Funktionen erfüllen – neben der Eigenverbrauchsoptimierung, zum Beispiel bei Batterien, auch die Bereitstellung von Systemdienstleistungen – und werden so in Zukunft für die Energiewende eine immer wichtigere Rolle einnehmen.
Standpunkt: Die EU treibt mit dem Net Zero Industry Act (NZIA) die Energiewende voran, die USA haben den Inflation Reduction Act (IRA) als gigantischen Förderplan auf den Weg gebracht. Wer stellt sich damit besser für die Zukunft auf?
Simone Peter: Die Vereinigten Staaten haben mit dem IRA ein starkes Ausrufezeichen gesetzt. Insbesondere die steuerlichen Anreize für Unternehmen, die in den USA produzieren, locken Investoren und Unternehmen aus aller Welt an. Der EU ist auf dem langen Weg zu einer Antwort auf den IRA leider die Puste ausgegangen. Statt wie die USA hunderte Milliarden Euro zu investieren, muss der NZIA ohne frisches Geld auskommen und enthält einige unnötige Knebel. Dennoch beinhaltet er viele sehr sinnvolle Maßnahmen, wie schnellere Genehmigungsverfahren, Beschleunigungsgebiete oder ein vorrangiger Status für strategische Projekte. Das muss jetzt auf nationaler Ebene umgesetzt werden. In Deutschland kann mit dem Solarpaket I die heimische Produktion unmittelbar gestützt werden, um Solarmodulhersteller vor Betriebsschließungen zu bewahren und ungleiche internationale Wettbewerbsbedingungen auszugleichen.
Standpunkt: Die USA locken mit Steuersubventionen, deutsche Solartechnik könnte abwandern – verliert Deutschland den Anschluss bei wichtigen Technologien?
Simone Peter: Wenn wir jetzt nicht aufpassen, kann das passieren. Doch ein zweiter Niedergang des Solar Valley hätte nicht nur fatale industrie- und beschäftigungspolitische Folgen, sondern würde auch Raum für weitere populistische Kräfte geben. Und auch für alle anderen erneuerbaren Technologien gilt: Kurs halten, kein Hüh und Hott bei der Förderung und mehr Anreize für die heimische Wertschöpfung. Die Zeit drängt. Abwanderungen werden wir bitter bereuen und teurer bezahlen.