16.05.2022
Schutz der Biodiversität – was auf die Unternehmen zukommt
Unternehmen verdienen an der Zerstörung unserer Lebensgrundlagen. Um Biodiversität zu schützen, sollen sie für die Kosten aufkommen – doch es fehlt an Messgrößen.
Die EU zieht die Zügel für Unternehmen in Sachen Umwelt- und Klimaschutz an. Das seit Jahresbeginn geltende Regime der EU-Taxonomie legt Kriterien fest, anhand derer man entscheiden kann, ob ein Unternehmen oder ein Projekt nachhaltig ist. Die Maßgaben für das Thema Biodiversität werden aktuell noch entwickelt. Dahinter steht die Erkenntnis, dass der Verlust an biologischer Vielfalt für uns Menschen genauso bedrohlich ist wie der Klimawandel. Also: Unsere Lebensgrundlagen sind in Gefahr.
Ein bisschen nachhaltiges Sanieren, ein wenig E-Mobilität. Fahrradfahren und mehr öffentliche Verkehrsmittel? Das schadet zumindest der Umwelt nicht so sehr wie die Nutzung eines Verbrenners und senkt die Emissionen. Biodiversität aber ist eine ganz andere Liga. Es geht um Regeneration der natürlichen Ökosysteme, nicht nur um einen Stopp an Zerstörung. Laut Erkenntnissen aus Wissenschaft und den aktuellen Diskussionen in der Politik, „hat der Zustand von Land, Wasser und Luft ein lebensbedrohliches Ausmaß erreicht. Aber so richtig realisiert hat das kaum jemand“, so Julian Blohmke, Nachhaltigkeitsexperte der LBBW mit Fokus auf Biodiversität und Klimawandel.
Studien zu dem Thema gibt es viele. Die Helmholtz-Stiftung, die Leopoldina, die Vereinten Nationen und etliche Expertengremien warnen seit Jahren vor den dramatischen Auswirkungen für die Menschheit. Nur langsam bahnt sich das Thema den Weg auf die Tische der Politik und jetzt dann auch auf die Agenda der Unternehmen. Blohmke erkennt eine klare Ursache für das Versagen: „Es muss in die Veränderung von Verhaltensweisen investiert werden, unser Verständnis vom Zusammenleben mit der Natur und in die Zukunft muss sich verändern. Letzten Endes geht es um soziale Kohäsion.“ Wir alle müssen unser Leben komplett neu definieren. Ein globaler Kraftakt.
Es muss in die Veränderung von Verhaltensweisen investiert werden, unser Verständnis vom Zusammenleben mit der Natur muss sich verändern.
Ökosysteme wie Wälder, Böden und Meere sind schon wegen ihrer wichtigen Rolle für ein stabiles Klima, reine Luft und sauberes Wasser die Grundlage für das Wohlergehen aller Menschen. Damit haben gesunde Ökosysteme den Charakter „globaler Gemeingüter“. Doch die ehemals scheinbar endlosen Ressourcen sind inzwischen weltweit knapp und zunehmend in erheblichem Ausmaß bedroht.
Biologische Kreisläufe sind akut in Gefahr.
Die Folge? Die Funktionsfähigkeit intakter biologischer Kreisläufe ist akut in Gefahr. Bereits 2019 veröffentlichte der Weltbiodiversitätsrat IPBES und 2021 auch der Bericht von Sir Partha Dasgupta (Professor an der Universität Cambridge in England, Dasgupta Review) zu dem globalen Zustand der biologischen Vielfalt und den Ursachen sowie Folgen ihres Verlustes: „Die Natur ist in einem so schlechten Zustand, dass ihre Fähigkeit, Umweltprozesse zu regulieren, weltweit dramatisch abgenommen hat. 75 Prozent der Landoberfläche sind degradiert, 66 Prozent der Meeresfläche stark verändert und mehr als 85 Prozent der Feuchtgebiete bereits verloren gegangen.“ Ein paar Fakten:
- Die Rote Liste der bedrohten Arten schätzt: Gegenwärtig sind weltweit über 30.000 Tier- und Pflanzenarten vom Aussterben bedroht.
- Der durchschnittliche Artenbestand ist in den meisten Landlebensräumen seit 1900 um über 20 Prozent gesunken.
- Mehr als 40 Prozent der Amphibienarten, fast ein Drittel der riffbildenden Korallen und mehr als 33 Prozent aller Meeressäugetiere sind bedroht.
- Die Anzahl von Wildsäugetieren ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts um 82 Prozent zurückgegangen, ihre Verbreitung um mindestens 50 Prozent.
- Seit dem 16. Jahrhundert sind mindestens 680 Wirbeltierarten ausgestorben.
- Drei Viertel der natürlichen Landökosysteme und etwa zwei Drittel der Meeresökosysteme wurden erheblich beeinträchtigt und zerstört.
Bienen stehen für 2 Milliarden Euro Wirtschaftsleistung pro Jahr
Damit steht – wie Banker sagen – alles at risk. Die Helmholtz-Experten schreiben in ihrem Gutachten: „Ein Aussterben von bis zu 40 Prozent aller Insekten weltweit wird für die nächsten Jahrzehnte befürchtet.“ Beispiel Bienen: Eine Welt ohne Biene ist undenkbar. Die Bedeutung von Bienen als Bestäuber für Biodiversität und Ernährungssicherheit ist elementar für die Menschheit. Deshalb hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen den 20. Mai als World Bee Day – den Weltbienentag – ausgerufen. Die pelzigen Summer sind auch ein wichtiger Wirtschaftsfaktor: Rund 80 Prozent aller Blütenpflanzen werden durch sie bestäubt – allein für Deutschland schätzt man ihren Wert auf gut und gerne 2 Milliarden Euro.
Die Ursachenforschung muss nicht lange über Gründe und Verantwortung sinnieren: Es ist der Mensch. Es sind seine Verhaltensweisen. Es sind seine Gesellschaftsmuster. Die Liste ist lang:
- Derzeit werden mehr als ein Drittel der globalen Landoberfläche und fast 75 Prozent der Süßwasserressourcen für die Nahrungsmittelproduktion genutzt.
- Durch Bodenverluste und Degradierung von Agrarland ist die Produktivität der Landoberfläche um 23 Prozent gesunken.
- Globale Ernteerträge von bis zu 577 Milliarden US-Dollar sind potenziell durch Verluste von Bestäubern gefährdet.
- Im Jahr 2015 wurden 33 Prozent der Meeresfischbestände überfischt.
- Bis zu 400 Millionen Tonnen Schwermetalle, Lösungsmittel, giftiger Schlamm und andere Industrieabfälle sowie Pestizide gelangen jährlich in die Gewässer der Welt.
- Das Kippen von Düngemitteln in Küstenökosysteme hat weltweit mehr als 400 marine „Todeszonen“ mit einer Gesamtfläche von mehr als 245.000 Quadratkilometern verursacht.
- Seit 1980 ist das Volumen an Plastik in den Meeren um bis zum Zehnfachen angestiegen. Laut Ellen MacArthur Foundation schwimmt, gemessen am Volumen, in den Weltmeeren inzwischen mehr Plastik als Meereslebewesen.
Das Dramatische daran: Während wir beim Klimawandel derzeit noch hoffen, mit Technologien und Umweltschutz einiges bewegen zu können und insbesondere Klima-Kipppunkte abzuwenden, ist der zunehmend tragische Zustand der biologischen Vielfalt bisweilen nicht umzukehren: Weder technische Lösungen noch irgendetwas anderes können verloren gegangene Arten und Spezies wieder auf den Planeten zurückbringen.
Globale Gerechtigkeitsfragen neu betrachten
In Anbetracht des dramatischen Verlustes an biologischer Vielfalt weltweit müssen globale Sicherheits- und Gerechtigkeitsfragen neu betrachtet werden. Während beispielsweise viele Menschen, die direkt von Fisch als Nahrungsquelle und Lebensgrundlage abhängig sind, nur in geringem Ausmaß Fischerei betreiben, profitiert beispielsweise die Fischereiindustrie von einem unzureichend kontrollierten Zugang zu den Ressourcen der Meere, indem sie diese übermäßig nutzt.
Unternehmen werden sich daran gewöhnen müssen, die negativen Folgen ihres Handelns für Ökosysteme zu reporten.
Noch ein Beispiel: Von der unkontrollierten Entwaldung in den Tropen für die Nahrungsmittelproduktion profitieren vor allem multinationale Konzerne und die Verbraucher in den reichen Ländern. Gewinne aus dem Raubbau an Ökosystemen fallen somit in vielen Fällen einzelnen Privatpersonen oder großen Unternehmen zu. Gleichzeitig tragen diese nicht die Kosten – weder für die von ihnen verursachte Umweltzerstörung noch für die sozialen Auswirkungen.
Ähnlich wie im Pariser Klimaschutzabkommen wird das Global Biodiversity Framework also einen Plan für konkrete Ziele zum Schutz der Ökosysteme bis 2030 definieren. Zusätzlich entwickelt die Taskforce on Nature-related Financial Disclosure (TNFD) Empfehlungen für mehr Transparenz bei Unternehmenspraktiken. Beide werden die zukünftigen Leitplanken für Unternehmen im Umgang mit der Natur sein.
Für den LBBW-Experten Julian Blohmke ist die Sache klar: „Die Unternehmen werden sich in den kommenden Jahren daran gewöhnen müssen, auch ihre Abhängigkeit von der Natur und die negativen Folgen ihres Handelns für Ökosysteme zu reporten. Ähnlich wie derzeit Mitarbeiterzahlen, Umsatz und Gewinn oder Treibhausgasemissionen.“ Das Problem jedoch ist: „Noch fehlen Standards und Messgrößen, wie der Einsatz oder eben die Ausbeutung von Ressourcen entlang der Wertschöpfungsketten zu bewerten ist.“ Da kommt etwas ganz Großes auf die Unternehmen zu – eine alternativlose Notwendigkeit und Chance.