Wo sind die Fachkräfte hin?

Der Arbeitsmarkt schlägt Kapriolen, Fachkräfte fehlen an allen Ecken und Enden. Aber wo sind denn alle hin? LBBW Standpunkt hat sich auf die Suche gemacht.

Labor mit Mikroskopen

Deutschlands Autobahnen gleichen derzeit einem rollenden Jobcenter. Kaum ein Lkw, der nicht Prokuristen, Installateure, Mechatroniker, Lageristen, Disponenten sucht. Immer das Gleiche: Wir suchen Sie! Komm in unser Team! Sie wollen einen sicheren Job? Mit Zukunft? Guter Bezahlung?

Der Fachkräftemangel treibt mittlerweile seltsame Blüten. Jobbörsen im Netz brummen wie selten zuvor. Personalberatungen müssen inzwischen selbst lukrative Angebote ablehnen – ausgebucht.

Bundesweit 877.000 offene Stellen meldet die Agentur für Arbeit derzeit – der Stellenmarkt ist leergefegt. Trotz der rund drei Millionen Jobsucher – was einer Arbeitslosenquote von 4,9 Prozent entspricht – sprechen Ökonomen bereits von Vollbeschäftigung. Laut Zahlen des Bundesarbeitgeberverbandes deutscher Personaldienstleister ist die Mangelwirtschaft noch viel größer. Die 215.000 Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen in Deutschland suchen derzeit 1,5 Millionen Menschen. Ausgewertet wurden dabei 199 Stellenmärkte in den Zeitungen, mehr als 250 Online-Jobbörsen und mehr als 30.000 Homepages von Firmen. Fast 1,75 Millionen fehlende Arbeitskräfte meldet das renommierte Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Egal welche Zahl stimmt – selten oder nie waren es mehr. Seit mehr als einem Jahr plädiert der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, angesichts des massiven Fachkräftemangels für eine gezielte Einwanderung. 400.000 Menschen pro Jahr seien das Minimum.

1.75 Millionen

offene Stellen gibt es derzeit in Deutschland

Die Auftragsbücher sind zum Bersten voll

Der Mangel an Fachkräften hat verblüffende Konsequenzen. Restaurants sind nur noch drei Tage die Woche geöffnet. Arztpraxen reduzieren ihre Sprechzeiten auf das Mögliche. Friseure föhnen nur noch Bestandskunden. An den Airports bilden sich lange Schlangen, weil niemand die Passagiere abfertigt – es fehlt an Sicherheitsleuten. Flüge werden abgesagt, weil es an Piloten mangelt, um vom Kabinenpersonal nicht zu reden. Wer sein Auto zulassen will, bekommt bei der digitalen Terminvereinbarung auf der Webpage der Zulassungsstellen den kargen Hinweis: „Leider sind derzeit keine Termine verfügbar“. Wem der Wasserhahn tropft, der braucht Geduld. Viel Geduld. Im Handel stehen die Kunden vor zuweilen leeren Regalen. Hier kommen dann gleich zwei Dinge zusammen: Lieferengpässe und der Mangel an Mitarbeitern, die den Inhalt des LKW – so er denn kommt – in die Regale umladen.

Dabei sind die Auftragsbücher zum Bersten voll. Es stellt sich die Frage: Wo sind denn alle hin?

Im Bereich Verkehr und Logistik fehlten im Juni 69.000 Fachkräfte, bei Verkaufsberufen 64.000, im Gesundheitsbereich 56.000, bei Metallerzeugung und -bearbeitung 54.000. Die Liste des Mangels ist lang. Mechatroniker, Elektriker, Erzieher und Gaststättenberufe. Fahrer und Assistenzen. Selbst Chefs fehlen – in der Statistik als Führung von Unternehmen benannt. In Summe weisen die offiziellen Statistiken ein Plus von fast 27 Prozent offener Stellen gegenüber Juni des vergangenen Jahres aus.

400000

Menschen müssten jedes Jahr einwandern, um die offenen Stellen zu besetzen

Warum fehlen Fachkräfte? Vier Ansätze

Es gibt nicht die eine Erklärung für diesen Mangel an Fachkräften. Es kommen mindestens diese vier Faktoren zusammen:

  • Die Generation der „Helikoptereltern“ zwingt ihre Kinder erst zum Abitur, dann zum Studium. Ausbildungsberufe und Berufsschulen gehen leer aus. Allein in Baden-Württemberg schrumpfte die Zahl der Haupt- und Realschüler innerhalb von vier Jahrzehnten von knapp 300.000 (1980) auf 44.000 im aktuellen Schuljahr. Die Zahl der Azubis in Deutschland ist seit Jahren rückläufig. Im vergangenen Jahr gab es auf die 536.000 offenen Lehrstellen nur knapp 500.000 Bewerber. Gleichzeitig steigt die Zahl der Studierenden seit Jahren.
  • Die Babyboomer-Jahre laufen aus. „Oben am Arbeitsmarkt gehen mehr in Rente als unten eine Lehre beginnen“, mutmaßt LBBW-Chefökonom Moritz Kraemer.
  • Eine andere These des LBBW-Chefvolkswirts: „Viele haben die Kurzarbeit während der vergangenen zwei Jahre der Corona-Krise als funktionierendes Lebensmodell für sich anerkannt.“
  • Corona hat noch einen anderen Effekt: Nicht wenige Fachkräfte – gerade in beratenden Berufsfeldern – suchten die Selbstständigkeit.

Keine Branche hat in den vergangenen zwei Jahren Fachkräfte aufgesogen

Diese vier Ansätze erklären einiges – aber nicht alles. Keine Branche in Deutschland hat in den vergangenen zwei Jahren massiv Arbeitskraft aufgesogen. Wenn überhaupt, dann die öffentliche Verwaltung. Nach Zahlen des Kölner Instituts für Wirtschaft heuerten vor allem Organisationskräfte aus der Wirtschaft bei krisensicheren Kreisverwaltungsämtern, Gesundheits- oder Finanzbehörden an. Ein Plus von 100.000 Jobs in 2020 sei zu verzeichnen, so die Kölner Ökonomen.

Oben am Arbeitsmarkt gehen mehr in Rente als unten eine Lehre beginnen

Moritz Kraemer, Chefökonom der LBBW

Keine empirische Evidenz allerdings gibt es für den gern und oft in den Medien zitierte „Big Quit“. Dieses Phänomen wurde in den USA gesichtet, wo Hunderttausende ihre Jobs aufgegeben haben sollen. Null Bock. Null Perspektive. Mehr Freizeit… In Deutschland ist das Gegenteil der Fall. Zumindest im ersten Corona-Jahr war die selbstbestimmte „Beendigungsquote des Arbeitsverhältnisses“ – so heißt das im Ökonomen-Jargon - geringer als je zuvor. Das gilt im Übrigen auch für die Nicht-selbstbestimmte-Beendigungsquote, also das Feuern.

Wo sind denn nun alle?

Wie also ist es zu der aktuellen Personallücke in den Krisenbranchen gekommen? Für viele Arbeitsmarkt- und Berufsforscher liegt die Sache auf der Hand. „Der wesentliche Grund liegt in unterbliebenen Einstellungen“, so die Autoren eines Internetforums für die Ökonomie. Die Ursache dafür? Klar die unternehmerische Unsicherheit der vergangenen zwei Jahre. Und der schon länger bestehende Mangel an Fachkräften. Das heißt, die Frage, wo denn alle hin sind, ist die Falsche. Womit wir wieder am Anfang dieser Geschichte wären.