06.05.2025
Wachstum und Schwarz-Rot: Was der Koalitionsvertrag verspricht
Research Studie


In aller Kürze
- Das Research-Team der LBBW hat den Koalitionsvertrag von Union und SPD auf seine vermutliche Wachstumswirkungen untersucht
- Der ganz große Wurf im Sinne der Wirtschaft ist nicht erkennbar, aber gute Ansätze existieren
- Keine Überraschungen: Der Koalitionsvertrag ist in seiner Wachstumswirkung vergleichbar, aber insgesamt etwas vielversprechender als die gewichteten Mittel der Wahlprogramme der beiden Koalitionäre
Es ist vollbracht. Nach den Parteigremien der Unionsparteien CDU und CSU hat auch die SPD per Mitgliederentscheid den schwarz-roten Koalitionsvertrag gebilligt. Der Wahl von Friedrich Merz als Bundeskanzler am 6. Mai steht nun formal nichts mehr entgegen. Das Regierungsprogramm für die laufende Legislaturperiode steht fest.
Das haben wir zum Anlass genommen, die Wachstumswirkung des Koalitionsvertrages zu analysieren. Grundlage dafür ist die Studie „ Woran Deutschlands Wirtschaft krankt “, die Ende Oktober 2024 erschienen ist. In ihr hat das LBBW Research die für die fehlende wirtschaftliche Dynamik maßgeblichen Faktoren identifiziert und eingeordnet.
Auf der Basis dieser Studie haben wir vor der Bundestagswahl die Wahlprogramme der wichtigsten Parteien analytisch bewertet („ Wachstum und Wahlprogramme: eine wirtschaftspolitische “). Die hier vorliegende Studie nun beurteilt unter den gleichen Kriterien den Koalitionsvertrag von Union und SPD. Sie analysiert auch, ob das Regierungsprogramm in Hinblick auf das Wachstumsversprechen mehr ist als die Summe der Programmteile der Koalitionäre. Das Potenzial dazu wäre vorhanden, wenn die unterschiedlichen Parteien ihre jeweils besten Ideen eingebracht hätten. Um das Fazit vorwegzunehmen: Es kommt auf die betrachteten Politikfelder an.
Die Studie zur Wirtschaftsschwäche
Die Motivation zu der im Oktober vorgelegten Studie „ Woran Deutschlands Wirtschaft krankt “ war nicht zuletzt das Unbehagen, dass in der öffentlichen Debatte zu oft mit dem Brustton der Überzeugung auf wohlfeile und monokausale Gründe für die deutsche Wirtschaftsschwäche verwiesen wird. Das Anliegen der Studie ist es, die Diagnostik der ökonomischen Blockaden zu versachlichen. Die Analystinnen und Analysten der LBBW sind in zahlreichen Bereichen (vergleiche Abb. 1) fündig geworden. Es knirscht an etlichen Stellen. Einige der Herausforderungen sind externer Natur, die keine Bundesregierung, gleich welcher politischen Couleur, nennenswert beeinflussen kann. Aber die Studie identifiziert auch zahlreiche Politikfelder, die wir angehen können und müssen. Im Folgenden fassen wir die Ergebnisse in aller Kürze zusammen.
Dank seiner starken industriellen Basis zählte Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten zu den großen Globalisierungsgewinnern. Im Jahr 2024 lag die deutsche Exportquote bei 42 % des BIP, gegenüber 26 % im Jahre 2000. Umso stärker trifft die Stagnation des Welthandels die deutsche Volkswirtschaft. Treiber dieser Entwicklung ist neben der Umorientierung des wichtigen Handelspartners China der weltweit zunehmende Protektionismus, der sich in Zöllen und nicht-tarifären Handelshemmnissen Bahn bricht. Hinzu kommen die Herausforderungen des Klimawandels sowie zunehmende geopolitische Spannungen, die nicht zuletzt den Rohstoffimport erschweren. Aus diesen Einflussfaktoren haben wir die Handlungsfelder Exportförderung, Rohstoffsicherung und Förderung des Strukturwandels abgeleitet.
Mehrere politische Baustellen identifiziert die Studie auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Er krankt grundlegend an der demografischen Entwicklung des Landes. Wegen der niedrigen Geburtenziffer von nur 1,5 Kindern pro Frau (Abb. 2) schrumpft die Größe jeder kommenden Generation auf weniger als Dreiviertel der vorangegangenen. So werden wir in den kommenden Jahren jährlich netto eine knappe halbe Million Menschen auf dem Arbeitsmarkt verlieren, weil mehr Menschen in den Ruhestand gehen, als junge Leute nachkommen. Umso dringlicher wäre es, gezielte Fachkräfte anzuwerben und Zugewanderte besser in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Und zugleich Arbeitsfähigen mehr Arbeitsanreize zu setzen – dafür, generell am Arbeitsmarkt zu partizipieren, die Lebensarbeitszeit zu verlängern oder eine bisherige Teilzeittätigkeit auf Vollzeit auszudehnen.
Abb. 2: Durchschnittliche Kinderanzahl pro Frau
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Schon bei der Vorbereitung auf das Arbeitsleben, konstatieren die Analystinnen und Analysten, besteht erheblicher Strukturreformbedarf in Deutschland. Fehlende Investitionen in Bildung haben weitreichende Konsequenzen: Es beginnt bei 300.000 fehlenden Kitaplätzen und reicht bis zum notorisch schlechten Abschneiden deutscher Schüler bei den internationalen PISA-Vergleichstests. Auffällig sind bei Letzteren zudem die ganz besonders schlechten Resultate von Eingewanderten – vor allem dann, wenn es um Eingewanderte der ersten Generation geht. Auch eine bessere Integration im Bildungssektor zählt mithin zu den Maßnahmen, die das LBBW Research für wirtschaftsförderlich hält. Denn unzulängliche Bildungschancen sind in einem rohstoffarmen Land wie Deutschland auch ökonomisch fatal.
Für häufige Klagen der Wirtschaft über die hohe Steuer- und Abgabenlast haben wir indes nur bedingt Belege gefunden. So sind etwa die Lohnnebenkosten zwar hoch, doch der Abstand zu anderen Ländern verringert sich bereits seit Jahren. Auch an den Lohnstückkosten ist keine Verschlechterung der Wettbewerbsposition Deutschlands abzulesen. Gleichwohl könnten in Anbetracht der zahlreichen, nun schlagend werdenden strukturellen Herausforderungen gezielte Entlastungen durchaus Investitions- und Wachstumsanreize generieren.
Besonderes Augenmerk sollte das staatliche Handeln auf die Deregulierung vieler Prozesse und Verfahren legen, um der überbordenden Bürokratie Herr zu werden (Abb. 3). Hier lässt sich tatsächlich von einer Überforderung der Wirtschaft sprechen. Das gilt insbesondere auch für Unternehmen in der Anfangsphase: In Deutschland fehlt es an Gründern. Nach einer Untersuchung der Weltbank bedurfte es 2020 in Deutschland neun administrativer Prozesse, um ein Start-up auf die Beine zu stellen. In Großbritannien waren es nur vier, in Kanada sogar nur zwei. Gründungsförderung und die Beseitigung bürokratischer Hemmnisse sind mithin ebenfalls ein glasklarer Auftrag an die Politik.
Abb. 3: Was sind die größten Investitionshindernisse?
(Umfrage 4. Quartal 2024, bis zu drei Nennungen möglich
Auch dringende Investitionen in Infrastruktur erschwert die deutsche – und europäische – Überregulierung. Um den Stau in diesem Bereich aufzulösen, braucht es einen Investitionsschub in Höhe eines mittleren dreistelligen Milliarden-Euro-Betrages vorrangig in den Bereichen Digitalisierung, Energienetze, öffentlicher Nahverkehr, Verkehrsinfrastruktur sowie in Schulen und Hochschulen.
Zu guter Letzt spielen auch die Einstellungen eine Rolle, die eine Gesellschaft dominieren. Für Deutschland macht das LBBW Research vor allem eine zunehmende Risikoscheu und Veränderungsaversion aus. „Rund 20 Jahre nach der Agenda 2010 ist Deutschland vielleicht nicht so sehr zum kranken, als vielmehr zum ängstlichen und ein Stück weit bequemen Mann Europas geworden“, schreiben die Autoren des Kapitels Mindset. Das zeigt sich in vielerlei Aspekten: Beim Zaudern, Bürokratie abzubauen, bei den Bedenken gegen das Riesenprojekt Energiewende und selbst beim Anlageverhalten. Denn Deutsche sparen zwar fleißig, aber so risikoavers, dass die Rendite weit unter dem Möglichen bleibt. Hier tun Anreize zur Vermögensbildung not.
Damit die Wirtschaft langfristig wieder Tritt fasst, braucht es ein umfassendes und mutiges Reformpaket, das möglichst viele Wachstumshemmnisse aus dem Weg räumt. Der vorliegende Blickpunkt analysiert, ob der Koalitionsvertrag verspricht, die notwendigen Reformen auf den Weg zu bringen. Das Ergebnis der Analyse zeigt, dass dies leider nur sehr partiell der Fall ist.
Abb. 1: Handlungsfelder und Kriterien im Überblick
Handlungsfelder | Kriterien |
---|---|
Äußere Einflüsse |
Exportförderung Rohstoffsicherung Förderung des Strukturwandels |
Demografie |
Verlängerung Lebensarbeitszeit Gezielte Fachkräfteanwerbung |
Staatliches Handeln |
Deregulierung Steuern und Abgaben Gründungsförderung Arbeitsanreize |
Infrastruktur |
Investitionsschub Vereinfachung Prozesse |
Bildung und Integration |
Investitionen in Bildung Strukturreform Bildung Integration Bildungssektor Integration Arbeitsmarkt |
Mindset |
Anreize Partizipation Arbeitsmarkt Anreize Vermögensbildung Anreize für mehr Vollzeit |
Methodologie
Knapp zwanzig Analystinnen und Analysten des LBBW Research haben es auf sich genommen, dass 144-seitige Koalitionspaket zu studieren und auf mögliche Wachstumswirkungen hin abzuklopfen. Danach haben sie unabhängig voneinander eine Bewertung von Null (wird nicht erwähnt oder negative Wirkung) bis 4 (zentrale Leitplanke des Koalitionsvertrages mit plausiblen Details) vergeben (siehe Abb. 4 für Definitionen). Dabei haben wir uns parteipolitische Scheuklappen verordnet, um den Einfluss der eigenen politischen Präferenzen weitestgehend aus der individuellen Bewertung auszublenden.
Bewertungsschema
Bewertung | Beschreibung |
---|---|
0 | Wird nicht erwähnt oder negative Wirkung |
1 | Wird nur kurz erwähnt, aber nicht genauer thematisiert |
2 | Wird thematisiert, aber ohne oder mit nur unplausiblen Details |
3 | Wird thematisiert, mit plausiblen Details |
4 | Zentrale Leitplanke des Programms mit plausiblen Details |
Zwei wichtige Annahmen liegen den Bewertungen zugrunde. Erstens: Wir nehmen die Koalitionäre beim Wort. Wir berücksichtigen nur das, was im Koalitionspapier tatsächlich niedergeschrieben ist. Es findet also kein Interpretationsversuch statt darüber, was die Koalitionspartner meinen könnten, auch wenn sie es nicht explizit aufgeschrieben haben.
Zweitens: Alle Maßnahmen und Intentionen der schwarz-roten Koalition stehen explizit unter einem Finanzierungvorbehalt. Das bedeutet, dass sie nur dann umgesetzt werden sollen, wenn ihre Finanzierung als gesichert gelten kann. Es ist aus unserer Sicht durchaus zu erwarten, dass dieser Finanzierungsvorbehalt bindend sein könnte. Die Wachstumserwartungen, von denen die Koalitionspartner zum Teil sprechen, weichen bisweilen erheblich von denen des LBBW Research ab. Beispielhaft sei das laufende Jahr genannt, für das das LBBW Research wieder eine leichte Schrumpfung (-0,5 %) des Sozialprodukts prognostiziert. Entsprechend enttäuschend könnten auch die Staatseinnahmen ausfallen und somit die Umsetzung der Koalitionspläne gefährden. Insofern ist die hier präsentierte Bewertung des Koalitionsprogramms als die optimistische Obergrenze anzusehen, denn wir unterstellen dabei, dass die Finanzierungsvorbehalte nicht greifen.
Eine im strengen Sinne wissenschaftliche oder objektive Bewertung ist nicht möglich. Jede Einwertung ist notwendigerweise subjektiv. Durch die Durchschnittsbildung aus knapp zwanzig unabhängig voneinander vorgenommenen Bewertungen entsteht dennoch eine gewisse Objektivierung. Tatsächlich lagen die individuellen Bewertungen meist relativ eng beieinander. Nur in besonderen Ausnahmefällen wichen sie um zwei oder gar mehr Punkte voneinander ab. Im Folgenden diskutieren wir zunächst die aggregierten Ergebnisse.
Analog zu den Erkenntnissen der eingangs erwähnten Studie zur deutschen Wirtschaftsschwäche sind die wachstumshemmenden Faktoren in sechs Kategorien unterteilt:
- Äußere Einflüsse: Hier geht es um Herausforderungen wie Protektionismus, Rohstoffsicherheit und Transformation.
- Demografie: Diese Kategorie behandelt den demografischen Wandel und den damit strukturell einhergehenden Rückgang des Arbeitsangebots.
- Staatliches Handeln: Hier findet sich wirtschaftspolitisches Handeln im engeren Sinne wie Regulierung, Steuer- und Abgabenpolitik, Arbeitsanreize und das Umfeld für Unternehmensgründungen.
- Infrastruktur: Investitionen und die Vereinfachung von Genehmigungs- und Umsetzungsverfahren sind hier zentrale Stellschrauben.
- Bildung und Integration: Das Thema Humankapital, und somit Produktivität, steht hier im Vordergrund.
- Mindset: Diese Kategorie thematisiert gesellschaftliche Einstellungen, wie etwa den Umgang mit Risiken, Leistungsbereitschaft und Vorsorge durch Vermögensbildung.
Es ist nicht der große Durchbruch
Die Bewertung der Analystinnen und Analysten des LBBW zeigt ein weitgehend konsistentes Bild: Insgesamt enthält der Koalitionsvertrag durchaus vielversprechende Ansätze, bleibt in Summe aber das Opfer der unterschiedlichen Herangehensweisen und Weltbilder der beteiligten Parteien. Das kollektive Ergebnis deckt sich weitgehend mit unserer Schnelleinschätzung , nachdem der Vertrag ausgehandelt worden war. Über alle Politikmaßnahmen hinweg beträgt die ungewichtete durchschnittliche Bewertung 2,5 (siehe Abbildung 5). Das liegt fast genau auf der Höhe des stimmengewichteten Durchschnitts der Wahlprogramme von Union und SPD (2,6) aus unserer Studie vor der Wahl. Mit anderen Worten: Es ist den Verhandlern nicht gelungen, dass der Kompromiss besser ist als die Summe der Teile. Jedenfalls nicht mit Blick auf die zu entfaltende Wachstumsdynamik, um die es in diesem Blickpunkt geht.
Der einzige Politikbereich mit einer durchschnittlichen Bewertung von mindestens „3“ (= positiv und wird mit plausiblen Details thematisiert) ist der Themenkomplex „Infrastruktur“ (3,2; siehe Abb. 6). Das lässt sich unmittelbar auf die Etablierung des Sondervermögens Infrastruktur in Höhe von 500 Mrd. EUR zurückführen, die noch der alte Bundestag im Schweinsgalopp beschlossen hatte. Folgerichtig bewerten wir das Kriterium „Investitionsschub“ mit einem sehr hohen Wert von 3,7 (siehe Abb. 5. Zur Erinnerung: 4,0 ist der maximal mögliche Wert). Beim Kriterium „Vereinfachung Prozesse“ dagegen liegt der Wert mit 2,7 deutlich darunter. Das unterstreicht, dass neben den nun zur Verfügung stehenden Finanzierungsmitteln aus dem Sondervermögen auch maßgebliche Vereinfachungen bei Planung, Ausschreibung und Genehmigungsverfahren notwendig sein werden, damit sich die Wachstumshoffnungen der Investitionsoffensive auch wirklich erfüllen können.
Abb. 5: Wie das LBBW Research die einzelnen Kriterien bewertet hat
Handlungsfelder | Kriterien | Koalitionsvertrag | Union | SPD | gewichtetes Mittel Union/SPD |
---|---|---|---|---|---|
Äußere Einflüsse | Exportförderung | 1,9 | 3,0 | 2,0 | 2,6 |
Äußere Einflüsse | Rohstoffsicherung | 2,5 | 2,1 | 2,3 | 2,2 |
Äußere Einflüsse | Förderung des Strukturwandels | 2,8 | 2,4 | 2,4 | 2,4 |
Demografie | Verlängerung Lebensarbeitszeit | 2,7 | 2,7 | 1,0 | 2,1 |
Demografie | Gezielte Fachkräfteanwerbung | 2,3 | 3,0 | 2,3 | 2,7 |
Staatliches Handeln | Deregulierung | 3,1 | 3,3 | 1,9 | 2,8 |
Staatliches Handeln | Steuern und Abgaben | 2,8 | 2,0 | 0,3 | 1,4 |
Staatliches Handeln | Gründungsförderung | 2,6 | 2,4 | 1,3 | 2,0 |
Staatliches Handeln | Arbeitsanreize | 2,8 | 2,7 | 1,0 | 2,1 |
Infrastruktur | Investitionsschub | 3,7 | 1,9 | 3,3 | 2,4 |
Infrastruktur | Vereinfachung Prozesse | 2,7 | 2,9 | 2,0 | 2,5 |
Bildung und Integration | Investitionen in Bildung | 2,8 | 2,4 | 2,1 | 2,3 |
Bildung und Integration | Strukturreform Bildung | 1,2 | 2,1 | 1,1 | 1,8 |
Bildung und Integration | Integration Bildungssektor | 1,7 | 1,7 | 1,9 | 1,8 |
Bildung und Integration | Integration Arbeitsmarkt | 2,6 | 2,7 | 2,6 | 2,7 |
Mindset | Anreize Partizipation Arbeitsmarkt | 2,9 | 2,6 | 1,0 | 2,0 |
Mindset | Anreize Vermögensbildung | 1,8 | 2,4 | 2,0 | 2,3 |
Mindset | Anreize für mehr Vollzeit | 2,4 | 1,1 | 1,3 | 1,2 |
Insgesamt | Mittelwert | 2,5 | 2,4 | 1,8 | 2,2 |
Relativ gute Bewertungen bekommt auch der Themenbereich „staatliches Handeln“ (2,8, siehe Abb. 6). Hier wiederum schneidet der Unterbereich „Deregulierung“ mit 3,1 am positivsten ab (siehe Abb. 5). Auch hier gilt aber, dass Papier zunächst einmal geduldig ist und es entscheidend sein wird, wann und wie die Regierung die im Koalitionsvertrag niedergeschriebenen Willensbekundungen auch tatsächlich umsetzt. Das ist umso wichtiger, als die mit der Regulierung einhergehenden Bürokratielasten gerade von mittelständischen Unternehmen als das wichtigste Investitionshemmnis genannt werden (siehe Abb. 3).
Im Themenkomplex „Staatliches Handeln“ weist auch die Unterkomponente „Steuern und Abgaben“ mit 2,8 einen überdurchschnittlichen, wenn auch nicht überragenden Wert auf. Diese Einschätzung basiert auf der Ankündigung von Sonderabschreibungen für Unternehmensinvestitionen sowie die Perspektive auf eine moderate Senkung der Unternehmenssteuern. Einmal mehr: Achtung Finanzierungsvorbehalt! Letzterer dürfte auch dazu geführt haben, dass die Bewertung durch die LBBW-Analystinnen und Analysten hier weiter auseinanderklaffen als bei fast allen anderen Kategorien (die Standardabweichung beträgt „für Steuern und Abgaben“ 0,8, bei einer durchschnittlichen Streuung über alle Politikbereiche von nur 0,5).
Für alle anderen wachstumsrelevanten Politikbereiche liegt der Wert in einem durchschnittlichen Werten zwischen 2,1 und 2,5. Mit anderen Worten, die Analystinnen und Analysten des LBBW Research erkennen zwar, dass die Problemfelder thematisiert werden. Was aber zumeist fehlt ist die Hinterlegung mit plausiblen und konkreten Maßnahmen. Ein schlüssiges und rundes Wachstumskonzept sieht anders aus.
Koalitionsvertrag versus Programme
Bei der Analyse der Parteiprogramme vor der Bundestagswahl hatten wir die Hoffnung geäußert, dass die Wachstumsimpulse einer Koalition ausgeprägter sein könnten als die der konstituierenden Parteien. Und zwar dann, wenn die Koalitionspartner jeweils ihre wachstumsfreundlichsten Politikmaßnahmen in die Koalitionsverhandlungen einbrächten und durchsetzen würden. Dann wäre das Ganze (die Koalitionsvereinbarung) mehr als die Summe der Teile (der Wahlprogramme).
Abb. 6: Bewertung Koalitionsvertrag versus Parteiprogramme
Ist das hier der Fall? Insgesamt ist diese Hoffnung tatsächlich erfüllt worden. Allerdings ist dieses Ergebnis nach Politikfeld differenziert zu betrachten. Der stimmengewichtete Durchschnitt bei den Bewertungen der Parteiprogramme von Union und SPD liegt mit 2,2 leicht unterhalb der durchschnittlichen Bewertung des Koalitionsvertrages über alle Politikbereiche (2,5, siehe erste und letzte Spalte in Abb. 5). Damit rangiert der Koalitionsvertrag oberhalb des Bewertungsintervalls zwischen denWahlprogrammen von CDU (2,4) und SPD (1,8).
Allerdings gibt es erkennbare Unterschiede zwischen den Politikbereichen. Wie bereits erwähnt ist der Komplex „Infrastruktur“ mit 3,2 der am höchsten bewertete Politikbereich. Aber nicht nur das: Der Koalitionsvertrag geht in diesem Punkt sogar über das hinaus, was jede der Koalitionsparteien individuell in Aussicht gestellt hatten.
Abb. 7 zeigt, wie sehr die Bewertung des Koalitionsvertrags vom Durchschnitt der Parteiprogramme abweicht, jeweils gewichtet mit den bei der Bundestagswahl auf die Koalitionsparteien entfallenen Stimmen (Union 64 %, SPD 36 %). Auch hier lässt sich das positive Verhandlungsergebnis im Bereich Infrastruktur klar ablesen. Aber auch im Bereich „Staatliches Handeln“ zeigt sich eine Overperformance, getrieben vor allem durch die in Aussicht gestellte Deregulierung, Steuerentlastungen für Unternehmen sowie Stärkung der Arbeitsanreize.
Auch im Politikbereich „Änderung des Mindsets“ verspricht die Koalitionsvereinbarung mehr als die Parteiprogramme. Das liegt vor allem auch an den niedrigen Werten, die das SPD-Wahlprogramm in dieser Kategorie erhalten hatte. Getrieben wird die Bewertung vor allem von einer relativ hohen Bewertung mit Blick auf die Erhöhung von Arbeitsanreizen. Allerdings ist der Wert für „Änderung des Mindsets“ mit 2,4 nicht besonders hoch. Die Overperformance gegenüber den Parteiprogrammen lässt sich somit vor allem auf die niedrigen Erwartungen in diesem Politikfeld zurückführen.
In den übrigen Politikfeldern konnten die Koalitionäre hingegen nicht positiv überraschen.
Abb. 7: Bewertung des Koalitionsvertrages
relativ zu den Wahlprogrammen von Union und SPD
Fazit
Insgesamt erfüllt der Koalitionsvertrag mit Blick auf die Wachstumswirkungen die bescheidenen Erwartungen, die man an ein Bündnis aus zwei solch unterschiedlichen Parteien mit divergierenden Weltanschauungen stellen kann. Insbesondere im Bereich Erneuerung der Infrastruktur geht so etwas wie ein „jetzt geht’s los“-Ruck durch die Koalition.
Alle Maßnahmen sind allerdings unter dem Vorbehalt der Finanzierbarkeit vereinbart worden. Das bedeutet, dass solche Politikmaßnahmen, die Geld kosten und nicht durch das Sondervermögen abgedeckt sind, möglicherweise erst später, nur abgespeckt oder gar nicht zur Umsetzung kommen. Entsprechend wären auch die Auswirkungen auf das Wachstum geringer.
Zudem ist anzumerken, dass in dem Koalitionsvertrag regelmäßig von „wir wollen“ und „wir prüfen“ die Rede ist und weniger von „wir werden“. Wir lesen das als einen Hinweis darauf, dass viele Kompromisse erst noch geschlossen und viele politische Brücken noch gebaut werden müssen. Im schlimmsten Fall könnte das zu andauernden Querelen innerhalb der Koalition führen, was die Glaubwürdigkeit der Politik beeinflussen würde.
Aber bislang haben sich die Führungsriegen von Union und Sozialdemokraten als verantwortungsbewusst präsentiert. Alle wissen, welche politische Beben ein Scheitern der Koalition auslösen könnte. Dieses Risiko will in Berlin niemand eingehen. Umso weniger, als durch den irrlichternden Kurs der US-amerikanischen Regierung viele vormals geltenden Sicherheiten ins Wanken geraten sind. Europa ist gefordert wie selten zuvor, Stärke und Führung zu mobilisieren. Sowohl Union als auch SPD scheinen diese Herausforderung, die für die größte Volkswirtschaft in der EU im Besonderen gilt, annehmen zu wollen.
Das macht Mut und sollte uns alle dazu animieren, der schwarz-roten Koalition eine faire Chance zu geben, sich zu bewähren. Die hier vorgelegten Bewertungen des Koalitionsvertrages machen darüber hinaus deutlich, dass die neue schwarz-rote Regierung durchaus zu positiven Überraschungen in der Lage sein könnte. Dass sie, wie so oft zitiert, „zum Erfolg verdammt“ ist, kann in diesem Zusammenhang als durchaus ermutigend betrachtet werden.
Studie als PDF Download
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510.4 KB | 06.05.2025
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