23.05.2025
Kernkraft: Zukunft oder Vergangenheit?
Research Studie | Erneuerbare Energie ist schwankend, Technologien für den Ausgleich stehen zur Verfügung, doch ist Atomstrom eine gute Ergänzung?


In aller Kürze
- Ein Großteil der deutschen Bevölkerung kann sich Atomkraft im Strommix vorstellen.
- Deutschland war 2024 Netto-Stromimporteur.
- Erneuerbare Energie ist schwankend, Technologien für den Ausgleich stehen zur Verfügung, doch ist Atomstrom eine gute Ergänzung?
Von
- Sabrina Kremer, Sustainability Research
- Geremia Marieni, Sustainability Research
Die Atomdebatte reißt nicht ab
Das Meinungsforschungsinstitut Innofact hat Ende März 1.007 Menschen im Auftrag des Vergleichsportals Verivox online zum Energiemarkt befragt. Das Ergebnis: Zwar lehnen 36 % eine erneute Nutzung von Atomkraft ab, doch 55 % sind für eine Rückkehr zu der umstrittenen Erzeugungsform. Dass Deutschland 2024 auf dem Strommarkt vom Nettoexporteur zum Nettoimporteur wurde, nährt die Debatte zusätzlich. Insbesondere die Reaktivierung bereits bestehender Meiler scheint vielen eine Option zu sein, um die erneuerbaren Energien zu ergänzen. Vor etwa zwei Jahren sind die letzten drei Reaktoren vom Netz gegangen. Die Stimmen für eine Reaktivierung von Isar 2, Neckarwestheim II, Emsland und weiteren Kernkraftwerken mehren sich. Die Unionsfraktion wollte noch bis vor Kurzem den Rückbau von insgesamt sechs AKW stoppen. Mit Abschluss des Koalitionsvertrages und der Regierungsbildung ist das Thema nun politisch vom Tisch. Was bleibt: Das Meinungsbild in der Bevölkerung. Insbesondere als Unterstützung für erneuerbare Energien in Defizitphasen wird die Kernenergie immer wieder ins Spiel gebracht. Doch wie weit ist der Rückbau der Reaktoren bereits fortgeschritten? Ist eine Wiederinbetriebnahme überhaupt noch möglich? Mit welchen Kosten ist dabei zu rechnen? Sind Kernkraftwerke überhaupt geeignet, die Schwankungen der erneuerbaren Energien auszugleichen? Wie sieht es mit dem ökonomischen Nutzen aus? Viele Fragen, auf die wir im Folgenden eine Antwort geben wollen.
Ist ein Restart technisch möglich?
Der Atomkraft-Thinktank Radiant Energy Group hat im November 2024 untersucht, inwieweit sich deutsche AKW reaktivieren lassen. Demnach kommen neun der ehemals mehr als 30 deutschen Reaktoren für ein Wiederanfahren infrage. Zeitgleich schreitet der Rückbau der Meiler konsequent voran. Im Wahlprogramm der CDU/CSU war noch die Rede davon, die Wiederaufnahme des Betriebes der zuletzt abgeschalteten Kernkraftwerke zu prüfen. Konkreter wird es in einem kürzlich vom Handelsblatt zitierten CDU-Papier, in dem von sechs Reaktoren die Rede ist. Im Folgenden werden wir uns auf diese sechs Reaktoren konzentrieren (siehe Abb. 1). Neben den anfangs genannten letzten drei deutschen Atomkraftwerken Isar 2, Neckarwestheim II und Emsland sind das Brokdorf, Grohnde und der Block B in Gundremmingen. Sie gingen im Jahr 2021 vom Netz. Die Studie hält Brokdorf und Emsland für die aussichtsreichsten Kandidaten mit Reaktivierungszeiten von einem und drei Jahren.
Die Abbaugenehmigung für das Kraftwerk Emsland wurde im September 2024 erteilt. Zum Zeitpunkt der Radiant-Studie war die Anlage noch weitestgehend intakt. Ähnliches gilt für Brokdorf, das die Genehmigung im Oktober 2024 erhielt. Bei den drei in Frage kommenden Reaktoren im Süden Deutschlands sieht es deutlich schwieriger aus. Ihr Rückbau begann bereits einige Monate früher. Hier sind die Turbinen und/oder das Kühlsystem bereits demontiert. Daraus ergeben sich deutlich längere Wiederaufbauzeiten von sechs bis acht Jahren. In Grohnde ist die Turbine ebenfalls schon abgebaut, dort schätzt die Radiant-Studie die Dauer der Reaktivierung auf vier Jahre. An dieser Stelle ist allerdings erneut das Alter der Studie zu berücksichtigen. Die Reaktoren in Bayern waren zu dem Zeitpunkt, als die Studie entstand, schon zu großen Teilen demontiert, obwohl der Rückbau erst einige Monate zuvor angelaufen war. Es ist davon auszugehen, dass der Rückbau auch bei den 2024 noch intakten Kraftwerken schnell vorangeht.
Die Atomkraftwerke mit Wiederaufbauzeit
Stand November 2024

Quelle: Radiant Group, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, LBBW Research
Die Anlagen Emsland und Brokdorf befinden sich mittlerweile ebenfalls seit einem halben Jahr im Rückbau und zentrale Komponenten sind bereits abgetragen. Die Berechnungen der Radiant Group beruhen aber auf einem intakten Zustand beider Kraftwerke und treffen nicht mehr zu. Mittlerweile ist bei beiden mit deutlich längeren Zeiten bis zur Wiederinbetriebnahme zu rechnen.
Hinkley Point C soll 50 Mrd. EUR kosten
Hinzu kommt: Die Annahmen gehen davon aus, dass der Wiederaufbau reibungslos verlaufen würde. Das ist aber schon bei Neubauten selten der Fall. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der britische Kernkraftwerkblock Hinkley Point C. Der Bau sollte ursprünglich 2023 abgeschlossen sein und 19 Mrd. EUR kosten. Eine Verzögerung um fünf Jahre und mehr als eine Verdopplung der anfangs angesetzten Kosten ist der aktuelle Zwischenstand. Steigende Materialpreise, Lieferschwierigkeiten, zusätzliche Auflagen und technische Probleme ließen die Kosten auf mehr als 50 Mrd. EUR steigen. Im Jahr 2023 stellte der chinesische Partner CGN seine Investitionen ein, die Kosten wird wohl der Steuerzahler zusätzlich zu Subventionen durch Preisgarantien in zweistelliger Milliarden-Euro-Höhe tragen. Der Bau des dritten Blocks des finnischen Kernkraftwerks Olkiluoto, der just in dem Moment ans Netz ging, in dem Deutschland die letzten drei Reaktoren abschaltete, verzögerte sich um 14 Jahre. Sein Preis stieg von ursprünglich geplanten 3 Mrd. EUR auf geschätzt 11 Mrd. EUR.
Bei reaktivierten alten Kernkraftwerken spielt zusätzlich die Sicherheit eine besondere Rolle. 40 Jahre alte Reaktoren, die lediglich für solch eine Zeitspanne ausgelegt waren, lassen sich nicht ohne Probleme wieder hochfahren. Ermüdungsbrüche und poröser Stahl bringen nicht nur längere Aufbauzeiten mit sich, sondern stellen ein Sicherheitsrisiko dar. Zudem führt die aktuelle geopolitische Lage zu weniger Planungssicherheit. Lieferengpässe und steigende Preise können die Folge sein und zu einem langwierigeren Wiederaufbau und höheren Kosten führen.
Um zur ursprünglichen Frage zurückzukehren: Ja, die sechs Kraftwerke aus dem Unionspapier können theoretisch reaktiviert werden. Trotzdem sind die Wiederaufbauzeiten schwer abzuschätzen und liegen mittlerweile vermutlich deutlich höher als von Radiant Ende 2024 geschätzt. Darüber hinaus bleibt die Regulatorik ein gewaltiges Hindernis. Langwierige Sicherheitsprüfungen müssten durchgeführt und der neueste Stand der Technik implementiert werden. Am Ende stehen ein unsicherer Zeithorizont sowie ein potenzielles Sicherheitsrisiko. Außerdem bleibt nur der Staat, als möglicher Betreiber.
Wer betreibt die deutschen AKW?
Die drei Betreiber der zuletzt abgeschalteten deutschen Atomkraftwerke haben der Reaktivierung bereits eine Absage erteilt. Sowohl RWE als auch E.ON und EnBW verweisen auf die massiven Investitionen, die schwierigen Genehmigungsprozesse und den Mangel an qualifizierten Betriebsmannschaften. Keiner der Energiekonzerne ist bereit, die Kernkraftwerke weiter zu betreiben. Das lässt Zweifel an der Wirtschaftlichkeit des Unterfangens aufkommen. Europäische Nachbarn wie Frankreich oder Schweden gelten häufig als positive Beispiele für eine Rückkehr zur Kernkraft. Dass in beiden Staaten die Kernkraftstrategie jedoch nicht auf Marktmechanismen, sondern auf politischer Rückendeckung und staatlichen Subventionen fußt, bleibt dabei gerne außen vor. In Frankreich sind alle Kernkraftwerke in Besitz von Électricité de France (EdF). Seit 2023 ist der Konzern vollständig in Staatsbesitz. Sowohl Risiken als auch Kosten müssen die Steuerzahler tragen. Für die geplanten sechs neuen Kernkraftprojekte hat der französische Bundesrechnungshof nun erstmal sein Veto eingelegt. Begründung: Kosten, die aus dem Ruder laufen, und Bauzeiten, die weit über Plan liegen. Dennoch arbeitet die französische Regierung weiter an Finanzierungmöglichkeiten. Eine Idee ist ein zinsloses Darlehen, mit dem der Energieversorger einen großen Teil der erwarteten Baukosten von mehr als 50 Mrd. EUR, abdecken soll. Der Stromabnahmepreis wird sowieso vom Staat gedeckelt. Steuerzahler und Verbraucher zahlen für diese Art der Subventionierung. Subventionen die nötig sind, da sich der Kernkraftbau im rein marktwirtschaftlichen Wettbewerb nicht rechnen würde.
Kosten des Wiederaufbaus
Die Baukosten für Kernkraftwerke sind schwer kalkulierbar. Wie der Bau des Kernkraftwerks Flamanville in Frankreich zeigt. Der dritte Kraftwerksblock sollte ursprünglich 3,3 Mrd. EUR kosten, laut dem französischen Rechnungshof sind die Kosten auf 23,7 Mrd. EUR gestiegen. Die Gefahr einer Kostenexplosion besteht auch bei einer Reaktivierung, zumal belastbaren Daten zu solchen Projekten fehlen. Generell ist Planungssicherheit für mehrjährige Großbauprojekte angesichts der turbulenten Weltlage noch weniger vorhanden als ohnehin. Wir betrachten trotzdem die häufig zitierten Schätzungen der Radiant Energy Group und versuchen, sie zu verifizieren.
Abb. 2: Geschätzte und tatsächliche Baukosten
in Mrd. EUR
Der Thinktank schätzt die Kosten für Brokdorf und Emsland jeweils auf bis zu eine Mrd. EUR. Für die anderen vier Kraftwerke taxiert Radiant den finanziellen Bedarf auf bis zu drei Mrd. EUR pro Anlage. Einen möglichen Vergleich bietet der kürzlich von Microsoft erworbene, 2019 stillgelegte Reaktor Three Mile Island, dessen Reaktivierung 1,6 Mrd. USD (1,4 Mrd. EUR) kosten soll, bei einer Leistung von lediglich 819 MW. Zum Vergleich: Die sechs deutschen Meiler haben eine Leistung von 1.284 bis 1.410 MW. Am ehesten vergleichbar mit Three Mile Island ist das Kraftwerk Emsland, da beide innerhalb von drei Jahren reaktiviert werden sollen (siehe Abb. 2). Der Microsoft-Reaktor hat im Vergleich nur 60 % der Leistung, soll aber 60 % mehr kosten, als Radiant annimmt. In Anbetracht dessen scheint die kalkulierte Milliarde für die deutschen AKW optimistisch.
Angenommen, die Bundesrepublik würde je Megawatt genauso viel zahlen wie Microsoft, würde die Reaktivierung des Emsland-Reaktors 2,3 Mrd. EUR kosten. Selbst, wenn ein Teil Fixkosten sind und nicht hochgerechnet werden können, bleibt die Umsetzung höherer Sicherheitsstandards in Deutschland, der fortgeschrittene Rückbau des Reaktors und die Planungsunsicherheit des Baus. Der bereits erfolgte Rückbau von mittlerweile sechs Monaten, ist vergleichbar mit dem der beiden bayrischen Reaktoren zum Zeitpunkt der Radiant Studie. Damals waren die beiden Reaktoren ebenfalls ein halbes Jahr im Rückbau, und die Reaktivierung schätzte der Thinktank jeweils auf bis zu drei Milliarden EUR. Unter Auslassung der restlichen Faktoren rechnen wir mit den drei Mrd. EUR als Untergrenze (siehe Abb. 3). Dabei handelt es sich um eines der vermeintlich günstigeren der sechs Kraftwerke.
Abb. 3: Geschätzte Baukosten
in Mrd. EUR
Pro Reaktor | Gesamt | |
---|---|---|
minimal | 3 | 21 |
realistisch | 5 | 30 |
maximal | 7 | 42 |
Quelle: Radiant Group, LBBW Research
Zudem sind die Rückbauverträge bereits geschlossen. Für den Stopp des auf 15 Jahre angesetzten Abbaus müsste der Staat die Konzerne entschädigen. Radiant geht in seiner Rechnung von Reaktivierungskosten in Höhe von 14 Mrd. EUR für alle sechs AKW aus. Angesichts des fortgeschrittenen Abbaus und nach dem Kostenvergleich zu Three Mile Island halten wir diese Kalkulation für zu niedrig. Wir rechnen je Kernkraftwerk vielmehr mit einer Spanne von drei bis sieben Mrd. EUR. Damit kommen wir auf eine mittlere Baukostenschätzung von insgesamt 30 Mrd. EUR oder 0,7 % des deutschen BIP 2024.
Die Erzeugungskosten
Bei den Erzeugungskosten von Strom entsteht häufig Verwirrung, da unterschiedliche Kostenarten miteinander verglichen werden. Insbesondere Lobbygruppen ziehen gerne Grenzkosten heran, die sowohl bei Erneuerbaren als auch bei Atomstrom sehr gering sind. Denn Erneuerbare brauchen keinen Brennstoff, und das für Atomstrom verwendete Uran ist im Verhältnis zur umgewandelten Energie sehr günstig. Jedoch sind bei den Grenzkosten nicht einmal die Betriebskosten des Kraftwerks einbezogen. Sie beschreiben lediglich Materialkosten für eine weitere Einheit Strom. Um die Gesamtkosten verschiedener Energieträger wirklich vergleichbar zu machen, eignen sich die sogenannten Stromgestehungskosten. Diese umfassen die gesamten Betriebskosten sowie zusätzlich die Bau- und Kapitalkosten und werden auf die gesamte Lebensspanne eines Kraftwerks berechnet.
So viel würde Strom aus reaktivierten Kernkraftwerken kosten. Das ist teurer als Elektrizität aus Wind und Solar. Aber günstiger als Strom aus Gaskraftwerken oder neuen Kernkraftwerken.
Die sechs deutschen Kernkraftwerke sind im Schnitt 40 Jahre alt. Für genau solch eine Betriebsdauer waren sie ursprünglich ausgelegt. Um eine sinnvolle Einschätzung für eine Maximaldauer zu erlangen, lohnt sich ein Blick zu unseren westlichen Nachbarn. Frankreich hat 2023 die Laufzeiten seiner – 40 Jahre alten – Kernkraftwerke um zehn Jahre verlängert und plant eine weiter Verlängerung um zehn Jahre. In Summe kommen wir also auf eine Laufzeit von 60 Jahren. In seiner aktuellen Studie zu Gestehungskosten rechnet das Fraunhofer-Institut mit Laufzeiten von 45 Jahren für Kernkraftwerke. Da sowohl Frankreich als auch Deutschland hauptsächlich auf Druckwasserreaktoren setzen und die Sicherheitsstandards vergleichbar sind, gehen wir von 60 Jahren aus. Im Folgenden haben wir dementsprechend die Stromgestehungskosten für reaktivierte Kernkraftwerke mit einer Restlaufzeit von 20 Jahren errechnet. Bei den Kosten der übrigen Energieträger haben wir die Daten der Fraunhofer-Studie verwendet. Ganz links in der Grafik haben wir mit den Zahlen der Radiant Group kalkuliert, um auch hierfür eine transparente Berechnung zu schaffen, die über die Grenzkosten hinausgeht.
Nach unserer Berechnung wären die Stromgestehungskosten aus reaktivierten Kernkraftwerken deutlich günstiger als bei einem Neubau. Im Mittel liegt der Preis pro Kilowattstunde (kWh) bei 16,7 ct, bei einem Neubau wäre er mit 31,3 ct/kWh fast doppelt so hoch. Im Vergleich zu Windkraft und auch Solarenergie schlägt sich Atomstrom schlechter. In den vergangenen Jahren sind die Preise für neue Solaranlagen stark gefallen und Windkraftanlagen um ein Vielfaches effizienter geworden. Die erneuerbaren Energien sind mit 5,5 ct/kWh für Photovoltaik-Freiflächenanlagen und 6,8 ct/kWh für Windparks auf dem Land deutlich günstiger. Im Vergleich zu Gaskraftwerken schlagen sich reaktivierte Kernkraftwerke hingegen deutlich besser. Gas liegt bei 24 ct/kWh, ist also um die Hälfte teurer. Gaskraftwerke die im Jahr 2035 von Erdgas auf Wasserstoff umgerüstet werden kommen auf Stromgestehungskosten von 28 ct/kWh. Doch dieser Wert ist mit einer erhöhten Unsicherheit behaftet, da schwer kalkulierbar ist welchen Marktpreis H2 haben wird. (siehe Abb. 4).
Abb 4: Stromgestehungskosten
in ct/kWh
Berechnung: Übernahme der Annahmen aus der Fraunhofer-Studie bei gleichzeitiger Anpassung der Betriebsdauer sowie Baukosten auf Reaktivierungsszenario. Untergrenze wurde mit hohen Baukosten und niedrigem Strom-Output berechnet, Obergrenze dagegen mit niedrigeren Baukosten und hohem Strom-Output
Das Ergebnis der Berechnungen ist allerdings mit Vorsicht zu genießen. Weitere Kosten wie der Netzausbau für die erneuerbaren Energien und die Endlagerung von Atommüll fließen nicht in die Gestehungskosten ein. Für letztere trägt die Bundesrepublik Deutschland die Verantwortung, da sie für 24 Mrd. EUR die Endlagerung übernommen hat. Das US-amerikanische Energieministerium geht von 675 Mrd. USD für die Endlagerung des amerikanischen Atommülls aus. Bei gerade einmal dem Fünffachen der deutschen Atommüllmenge. Das lässt Zweifel daran zu, dass 24 Mrd. EUR für unsere Endlagerung ausreichen werden.
Als disponible Leistung geeignet?
Durch die geplante Elektrifizierung von Verkehr, Heizung und Industrie sowie den hohen Stromverbrauch von KI-Rechenzentren wird der Strombedarf in Deutschland in den kommenden Jahren stark steigen. Allein um die grüne Transformation zu ermöglichen, rechnet das Bundeswirtschaftsministerium bis zum Jahr 2030 mit einer Zunahme des Bruttostrombedarfs auf 750 TWh. Im aktuellen Netzentwicklungsplan geht das Ministerium für das Jahr 2045 sogar von 967 bis 1351 TWh aus. Je nachdem wie stark Wasserstoff als Energieträger im Szenario berücksichtigt ist. Im Jahr 2024 lag der deutsche Strombedarf bei 512 TWh. Um genügend Strom zu produzieren und gleichzeitig die CO2- Emissionen zu senken, treibt Deutschland vor allem den Ausbau von Photovoltaik und Windenergie voran.
Abb. 5: Bruttostrombedarf Deutschland
in TWh
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Bis 2030 will Deutschland 80 % des Stroms aus erneuerbaren Energien gewinnen, 2045 soll das Land klimaneutral sein. Doch sowohl Windkraft als auch Photovoltaik schwanken naturgemäß in ihrer Leistung, was Defizitphasen zur Folge hat. Zum Ausgleich ist es nötig, ausgleichende Kraftwerke, sogenannte disponible Leistung vorzuhalten. Dafür ist zum einen der massive Ausbau von Batteriespeicherung nötig. Zum anderen kommen Wasserstoffkraftwerke (H2-Kraftwerke) oder eben die Kernkraft in Frage. Denn längerfristige Defizitphasen wie im Winter, wenn sowohl der Output der Photovoltaik sinkt als auch gleichzeitig der Strombedarf steigt, lassen sich nicht durch bloße Speicherung überbrücken. Der Bedarf ist schlichtweg zu groß.
Für die Kernenergie als Back-up-Option stellen sich drei Fragen:
- Inwieweit reichen die sechs Kernkraftwerke mit ihrer Leistung aus, um die Lücke in Defizitphasen zu schließen?
- Sind Kernkraftwerke überhaupt technisch geeignet, um kurzfristige Ausfälle auszugleichen?
- Wie schneidet Kernkraft in Konkurrenz zu H2-Kraftwerken ab?
Um diese Fragen zu beantworten, betrachten wir das Jahr 2045, in dem erstmal die Klimaneutralität erreicht sein soll. Markus Löffler und Ralf-M. Marquard von der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen haben den zu erwartenden Stromverbrauch simuliert. In ihrer im Wirtschaftsdienst des Leibniz-Informationszentrums für Wirtschaft erschienenen Analyse rechnen die Autoren mit einer vollständigen Abdeckung des Bruttostromverbrauchs durch erneuerbare Energien. Aufgrund der enormen Schwankungen ergibt sich ein Leistungsdefizit von bis zu 169 TWh pro Jahr. Als Ergänzung kommen potenziell Speicherung, H2-Kraftwerke und Kernkraftwerke infrage.
In Defizitphasen läge die maximal nötige disponible Leistung bei etwa 140 GW. Jedoch nur kurzzeitig, wenn fast alle erneuerbaren Energien zugleich ausfallen. Bis zu 80 GW könnten indes über längere Zeiträume fehlen, etwa in langen Winternächten. Die extremen Ausschläge könnte eine entsprechend ausgebaute Speicherinfrastruktur ausgleichen. Für längere Phasen mit bis zu 80 GW Defizit sind heutige Speicher allerdings nicht geeignet, stattdessen müssten Back-up-Kraftwerke einspringen. Die sechs verbliebenen Reaktoren kommen gerade einmal auf eine Gesamtleistung von 8,1 GW. In solchen Defizitphasen könnten die Kernkraftwerke also lediglich 10 % der benötigten Leistung bereitstellen. Zum Vergleich: Gaskraftwerke kommen aktuell auf eine Leistung von 36,6 GW. Aber auch deren Leistung – unabhängig, ob auf H2 umgerüstet oder nicht – reicht bei weitem nicht aus. Der Bau weiterer Kraftwerke ist in beiden Fällen nötig. Und wie wir im vorherigen Kapitel gezeigt haben, ist ein Neubau von Kernkraftwerken ökonomisch wenig sinnvoll.
Abb. 6: Ausfallleistung und verfügbare Leistung
in GW
Kommen wir zur zweiten Problemstellung: Entsteht ein Defizit, muss es kurzfristig abgedeckt werden. Einspringende Anlagen müssen also sehr schnell hoch- und auch wieder herunterfahren können. Dafür sind Kernkraftwerke aber nur sehr bedingt geeignet. Sie sind darauf ausgelegt, konstant nahe der Volllast zu laufen. Oberhalb einer Nennleistung von 50 % lässt sich die Reaktorleistung zwar noch mit bis zu 5 % pro Minute auf- und abregeln. Unterhalb dieser Schwelle wird es aber komplizierter. Wegen starker Verschleißgefahr lässt sich die Leistung nur noch sehr langsam anpassen. Einen Reaktor aus dem ausgeschalteten Zustand wieder hochzufahren, ist aufgrund der thermischen Trägheit und der hohen Sicherheitsanforderungen noch langwieriger. Selbst ein Warmstart, also nach kurzer Pause, kann bis zu einem ganzen Tag dauern. Bei einem Warmstart ist der Reaktor lediglich kurz abgeschaltet gewesen und das Speisewasser noch warm. Viele Systeme sind noch aktiv beziehungsweise schnell reaktivierbar. Dagegen spricht man nach längerer Abschaltung, wenn alle Systeme heruntergefahren sind, von einem Kaltstart. Ein solcher Kaltstart kann mehrere Tage in Anspruch nehmen, da kein Dampfdruck mehr im System ist. Ein H2-Kraftwerk hingegen lässt sich innerhalb von Minuten hochfahren.
Wenn die Sonne gerade nicht scheint oder der Wind nicht weht, fehlt die Zeit, um tagelang hochzufahren. Somit sind Kernkraftwerke nur als Ausgleich der Defizitphasen geeignet, wenn man sie nie ganz herunterfährt. Sie würden also permanent Strom produzieren und keine wirkliche Ersatzfunktion erfüllen. Dass die Erneuerbaren in dem Szenario für das Jahr 2045 auch bis zu 407 TWh Leistungsüberschuss aufweisen können, hilft hier nicht wirklich. Das KIT hat in einer 2017 durchgeführten Studie festgestellt, dass durch einem bedingten flexiblen Lastfolgebetrieb von AKW diese Überschussphasen weiter anwachsen. Die Anzahl der Stunden mit Negativen Strompreisen würde schon für das Jahr 2030 von 1.950 auf 2.600 ansteigen. Damit würde die Anzahl der Stunden mit negativen Strompreisen so stark ansteigen, dass die durchschnittlichen Strompreise negativ werden. In solch einem Energiesystem wären die Stromgestehungskosten von Kernkraft exorbitant hoch und deutlich über denen von H2-Kraftwerken.
Die Kernkraftwerke würden kontinuierlich zumindest im Teillastbetrieb laufen müssen, auch wenn ihre Energie nur in vorübergehenden Phasen benötigt würde. Das wäre sowohl fürs Stromnetz als auch ökonomisch kaum tragbar. Eine Kombination aus H2-Kraftwerken und Energiespeicherung scheint eine praktischere und rentablere Lösung für die Schwankungsproblematik zu sein. Doch auch hier sind Investitionen und Ausbau in Infrastruktur und Kraftwerke noch zu schleppend, um im Jahr 2045 die benötigten 80 GW abdecken zu können.
Fazit
Sechs deutsche Kernkraftwerke könnten theoretisch reaktiviert werden.
Doch:
- Die Reaktoren liefern mit insgesamt 8,1 GW nur einen sehr kleinen Teil der künftig benötigten Leistung.
- Sie können die schwankenden Erneuerbaren wegen ihrer Funktionsweise als Grundlastkraftwerke nicht optimal ausgleichen.
- Die Betreiber sind Stand heute nicht bereit, eine Reaktivierung zu unterstützen.
Zwar sind nach unserer Berechnung die Stromgestehungskosten von reaktivierten Kernkraftwerken auf den ersten Blick günstiger als die von H2-Kraftwerken, doch als Back-up sind AKW ökonomisch und praktisch ungeeignet.
Denn:
- Weder die Menge an produziertem Strom wäre ausreichend, noch könnten die Kernkraftwerke schnell genug hochgefahren werden.
- Im Dauerbetrieb mit Abregelung bis zu 50% Nennleistung würden sie massive Kosten verursachen und die Negativstunden am Strommarkt weiter erhöhen.
Nur auf Kernkraftwerke zu setzen, ist ökonomisch ebenfalls wenig sinnvoll. Selbst China plant trotz massivem Ausbau der Kernkraft nur etwa 15 % Kernenergie im Strommix. Aufgrund der deutlich höheren Baukosten sind in Deutschland die Stromgestehungskosten neuer Kernkraftwerke darüber hinaus deutlich höher als in China.
Mit durchschnittlich 31,3 ct/kWh sind sie höher als die von Kohlekraftwerken, Gaskraftwerken und erneuerbaren Energien. Große Bauvorhaben für Kernkraftwerke, wie in Frankreich, werden durch staatliche Subventionen finanziert. Kernkraft ist teuer, selbst wenn der Stromabnahmepreis gedeckelt und dadurch günstiger erscheint. Um Deutschlands Energiebedarf 2045 komplett mit Kernkraft zu decken, müssten etwa achtzig Reaktoren gebaut werden, was bei Kosten von 13 Mrd. EUR pro Reaktor 25 % des deutschen BIP ausmachen würde.
Die Sogenannten SMR (Small Reaktor) Kraftwerke, die ebenfalls häufig in die Diskussion miteingebracht werden, sind hier genauso wenig hilfreich. Da sie mit 300 MW Reaktorleistung deutlich weniger Strom umwandeln, müssten für eine Netzabdeckung mehrere hundert von diesen Reaktoren gebaut werden. Ihre Stromgestehungskosten sind aufgrund der fehlenden Umsetzung schwierig zu kalkulieren. Laut DIW sind sie ähnlich hoch wie bei herkömmlichen Kernkraftwerken. Hinzu kommt die Endlagerproblematik. Zwar haben Kernkraftwerke eine neutrale CO2-Bilanz, verursachen jedoch gleichzeitig radioaktiven Müll mit einer Halbwertszeit von 24.000 Jahren. Die 17.000 Tonnen bislang angefallener strahlender Müll haben immer noch kein endgültiges Lager gefunden. Die Kosten für die Endlagerung sind kaum abzuschätzen.
Studie als PDF Download
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1.5 MB | 23.05.2025
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