Ist es noch Strukturwandel oder bereits Deindustrialisierung? Das LBBW Research warnt mit Blick auf den Wirtschaftswandel vor Alarmismus. „Vor allem der Mittelstand steht mehrheitlich zum bewährten Standort Deutschland“, urteilt LBBW-Ökonom Jens- Oliver Niklasch in einer aktuellen Studie. Im internationalen Vergleich scheine der Standort noch attraktiv zu sein.
Darauf dürfe sich die Wirtschaftspolitik jedoch nicht ausruhen, sonst drohe eine gefährliche Deindustrialisierung des Landes, warnt er: „Eine Deindustrialisierung findet noch nicht statt, aber die Gefahr wird stetig größer. Der Standort Deutschland bekommt aktuell eine ‚Drei minus‘“. In der Schule wäre das wohl ein deutliches Signal, bestehende Rückstände aufzuholen, obgleich die Versetzung noch nicht in Gefahr ist.“
Zahlreiche Indikatoren zeigen der Standort Deutschlands auf dem absteigenden Ast. Beispielsweise sind die Direktinvestitionen ausländischer Unternehmen in Deutschland in den vergangenen beiden Vorjahren deutlich gesunken, während die Investitionen deutscher Unternehmen im Ausland kaum nachgelassen haben. „Die Gefahr einer Deindustrialisierung sollte nicht unterschätzt werden, auch wenn sich der Prozess über viele Jahre und in Etappen vollzieht“, urteilt Niklasch unter Verweis auf den Niedergang der US-Automobilregion Detroit, der Stahlindustrie im Ruhrgebiet oder der Abwanderung der Textilindustrie aus den südlichen und östlichen Regionen Deutschlands. Bis heute seien dort die Folgen des Niedergangs teilweise noch zu spüren.
‚Weniger Industrie bedeutet nicht weniger Produktivität‘
Noch scheine der aktuelle Bedeutungsverlust der Industrie lediglich Zeichen eines Strukturwandels sein. Ein mögliches Zukunftsszenario wäre, dass sich die Produktion besonders energieintensiver Erzeugnisse in Regionen verlagert, die den Zugang zu günstigen Energiequellen haben, wie das wind- und wasserreiche Skandinavien. Dieser Wandel würde sich eher geräuschlos vollziehen und sei lediglich der Versuch von Unternehmen, die Produktion und ihre Kosten zu optimieren. Bliebe der Wirtschaftswandel ein Strukturwandel, seien zugleich große Produktivitätsfortschritte in bestimmen Dienstleistungsbereichen zu erwarten (z.B. durch die Digitalisierung). „Unter dem Strich bedeutet somit weniger Industrie nicht unbedingt weniger Produktivität oder weniger Wirtschaftsleistung“, erklärt Niklasch.
Die deutsche Wirtschaft hatte in den vergangenen Jahren Niklasch zufolge zwar auch mit schweren Sonderfaktoren wie der Corona-Pandemie und dem Ukraine-Krieg zu kämpfen. Deutschland leide jedoch vor allem unter hausgemachten Schwächen. Dazu rechnet er die hohen Energiekosten der Unternehmen etwa durch die Dekarbonisierung ebenso, wie den Zustand von Infrastruktur und öffentlicher Verwaltung und die unternehmerischen Spielräume durch Fachkräftemangel oder Regierungshandeln. In allen wesentlichen Rankings falle Deutschland zurück. Höchste Zeit also, die wachsenden Rückstände zu anderen Ländern zu begrenzen.
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