20.05.2019

Der Mittelstand setzt auf Europa

Pressemitteilung

  • Mittelstand wegen Zusammenhalt und Staatsverschuldung um die EU sehr besorgt
  • LBBW-Unternehmenskundenvorstand Karl Manfred Lochner: „Unternehmen machen sich mehr Sorgen um den Fortbestand der EU als mancher Politiker“
  • Wirtschaft sieht Konjunktur- und Geschäftsverlauf optimistisch
  • Digitalisierung ist wesentlicher Investitionstreiber
  • Unternehmen sehen Finanzierungsbedingungen attraktiver – Nachfrage nach individuellen Leasing- und Working-Capital-Lösungen steigt
  • Großbritannien wird wegen des Brexit im weltweiten Vergleich am negativsten wahrgenommen

Wenige Tage vor der Europawahl sorgt sich der deutsche Mittelstand um den Zusammenhalt und die Staatsverschuldung der Mitgliedsstaaten. „Die Unternehmen machen sich mehr Sorgen um den Fortbestand der EU als mancher Politiker. Während in vielen europäischen Ländern nationale Politiker mit EU-kritischen oder gar EU-feindlichen Bemerkungen die Schlagzeilen beherrschen, geben deutsche Unternehmen dem gemeinsamen Wirtschafts- und Währungsraum Bestnoten“, erklärt der für das Unternehmenskundengeschäft verantwortliche LBBW-Vorstand Karl Manfred Lochner. Anlass ist die Veröffentlichung der bundesweiten Unternehmensbefragung „Mittelstandsradar“ der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) und des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung an der Universität Tübingen e.V. (IAW).

Für fast drei Viertel der deutschen Mittelständler zählen der Zusammenhalt der EU sowie die Verschuldung einzelner Staaten und deren Auswirkung auf den Euro zu den drängendsten Problemen. Jeweils mehr als die Hälfte der Befragten verwiesen zudem auf den mangelnden Bürokratieabbau in der EU und den Austritt Großbritanniens. Auch dies sind Themen, bei denen der Ball im Feld der Politik liegt. Erst auf Platz fünf der Herausforderungen für die EU taucht mit dem Mangel an Fachkräften ein originäres Wirtschaftsthema auf. „Der Fachkräftemangel stellt ein dauerhaftes Problem für die Unternehmen dar. In Kundengesprächen sieht die überwiegende Mehrheit den Fachkräftemangel als echte Belastung für ihre Geschäftsentwicklung an“, erklärt der für das Unternehmenskundengeschäft verantwortliche LBBWVorstand Karl Manfred Lochner.

Binnenmarkt und Euro stehen beim Mittelstand hoch im Kurs

Auf EU und Euro lassen die Unternehmer nichts kommen. Gut 60 Prozent der Befragten erklärten bei der Umfrage, der Binnenmarkt habe für ihr Unternehmen einen sehr hohen oder hohen Nutzen. Gut ein Viertel sieht zumindest noch einen mäßigen Nutzen für den eigenen Geschäftserfolg. Die exportstarke deutsche Wirtschaft profitiert in besonderem Maße vom Binnenmarkt mit seinem freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr. Fast 60 Prozent der deutschen Warenexporte gingen im vergangenen Jahr in die Länder der EU. Rechnet man Großbritannien heraus, sind es mit 53 Prozent fast ebenso viel, wie der EU-Anteil an den deutschen Wareneinfuhren.

Knapp 90 Prozent der befragten Exporteure nennen den gemeinsamen Euroraum als einen ihrer drei wichtigsten Absatzmärkte. Sie profitieren damit zusätzlich vom Wegfall des Wechselkursrisikos und einer höheren Planungssicherheit. Entsprechend bewerten gut 56 Prozent der Befragten den Nutzen der gemeinsamen Währung für das eigene Geschäft als sehr hoch oder hoch, knapp ein Drittel sieht zumindest noch einen mäßigen Nutzen durch den Euro. „Der Mittelstand setzt auf Europa. Aber die Unternehmer machen sich Sorgen um eine der wichtigsten Errungenschaften der Wirtschaftsgeschichte, die Europäische Union“, klagt LBBW-Vorstand Karl Manfred Lochner: „Die Unzufriedenheit mit der Hängepartie in wichtigen Politikfeldern ist mit den Händen zu greifen.“

Deutsche Mittelständler weiterhin optimistisch

Die Unternehmen blicken auch bei der im März 2019 durchgeführten Befragung hoch zufrieden auf ihre Geschäftsentwicklung und die Aussichten für die kommenden sechs Monate. Jeweils mehr als 70 Prozent der befragten Führungskräfte erklärten, ihre Lage und der Ausblick seien gut bis sehr gut. Dies spricht nach Ansicht des LBBW Research dafür, dass die Unternehmen wieder optimistischer sind als noch vor einem halben Jahr, als sich nur gut 60 Prozent der Befragten ähnlich positiv äußerten. Allerdings gehen die Sorgen um die Konjunktur an den Unternehmern nicht spurlos vorüber. Vor einem Jahr lagen die Umfragewerte jeweils um rund 15 Prozentpunkte höher. Damals war die Bedrohung durch einen Handelskonflikt der USA mit China und Europa noch nicht im Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit.

Investitionsbereitschaft bleibt weiter auf Vorjahresniveau

Unverändert hoch ist die Investitionsbereitschaft der Befragten. Rund 70 Prozent wollen in den kommenden sechs Monaten weiter investieren. Jedoch wird von den Unternehmern inzwischen weniger auf Expansion gesetzt. Wollten in den beiden zurückliegenden Befragungen noch rund 80 Prozent der investitionswilligen Unternehmen das Geschäft erweitern, so sind es aktuell nur noch knapp 60 Prozent. Vielmehr stehen nun Ersatzinvestitionen und Rationalisierungen im Vordergrund.

„Das Investitionsverhalten bleibt robust. Die Unternehmen haben verstanden, dass wichtige Neuerungen wie beispielsweise die Digitalisierung der Wirtschaft kein tagesaktuelles Problem sind. Sie ist vielmehr ein langfristig wirkender Megatrend, auf den es unabhängig von konjunkturellen Aufs und Abs besonnen zu reagieren gilt“, sagt LBBWChefvolkswirt Uwe Burkert. So nennen 72 Prozent der Befragten als Schwerpunkt ihrer Investitionen Digitalisierungsprojekte. Im Vergleich zur Befragung im Herbst 2018 wollen die Unternehmen zudem wieder verstärkt in ihre Geschäftsausstattung investieren. Hingegen stehen Forschung und Entwicklung nur noch bei 15 Prozent im Vordergrund, weniger als die Hälfte der im Herbst ermittelten 39 Prozent.

Kassenbestände steigen auf neue Rekordwerte

Die dafür notwendigen Mittel gewinnen viele der Unternehmen quasi aus der Kasse. Nach Schätzung des LBBW Research haben die Liquiditätsreserven bereits 2018 bei kleinen und mittelgroßen Unternehmen (KMU) übereinstimmend neue Rekordwerte erreicht. Trotzdem geben im aktuellen Mittelstandsradar immerhin noch knapp ein Drittel der Unternehmen an, sie hätten in den vergangenen sechs Monaten ihre Liquiditätsreserven weiter erhöht.

Unternehmer, die darüber hinaus Fremdkapital aufnehmen, freuen sich über verbesserte Finanzierungsbedingungen. 80 Prozent der Befragten halten sie für gut oder sehr gut. Gut ein Viertel der Mittelständler sieht eine Verbesserung bei den Vertragsbedingungen, ein knappes weiteres Viertel berichtet von gesunkenen Zinsen. Der klassische Bankkredit bleibt in der aktuellen Umfrage zwar unangefochten die Nr. 1. Inzwischen will aber eine große Mehrheit der Unternehmen (60 Prozent), die im kommenden Halbjahr Fremdkapital einsetzen wollen, Leasing und Factoring nutzen. Dies sind drei Mal so viele wie noch im Herbst. „Die Unternehmer wollen nicht nur die Freiheit, die ihnen eine möglichst hohe Liquidität durch das Leasing bietet. Die Kunden schätzen maßgeschneiderte Finanzierungslösungen, die Planungssicherheit bieten. Aktives Working Capital Management, Leasing und Factoring rücken daher verstärkt in den Fokus“, sagt Karl Manfred Lochner.

Standort Großbritannien rutscht bei der Wirtschaft ins Bodenlose

Die Unsicherheit über den Zeitpunkt und die Ausgestaltung des Brexit hat aus Sicht der deutschen Wirtschaft zu großen Imageverlusten geführt. Auch beim dritten Mittelstandsradar hat dieser Wirtschaftsstandort weiter an Boden verloren. In der aktuellen Befragung ist besonders bei der Bewertung der wirtschaftlichen Entwicklung und den politischen Rahmenbedingungen des Landes eine weitere Verschlechterung festzustellen. Auch als Absatzmarkt und Produktionsstandort wird Großbritannien erneut kritischer betrachtet. Das Land wird damit im weltweiten Vergleich weiter am negativsten wahrgenommen. Daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass wegen des Brexit überhaupt nur 6 Prozent für ihr Unternehmen mit großen Veränderungen rechnen und 30 Prozent überschaubare Veränderungen erwarten.

Mittelstand auf Brexit gut vorbereitet

Fast vier Fünftel dieser Unternehmen rechnen nach dem Austritt Großbritanniens mit Exportrückgängen, gut 70 Prozent erwarten, weniger als bislang von den britischen Inseln zu importieren. Zwei Drittel schließlich werden voraussichtlich zukünftig weniger in Großbritannien investieren. Nachdem sich der Mittelstand seit Juni 2016 auf den Brexit einstellen konnte, ist nach Ansicht des LBBW Research davon auszugehen, dass sich die Unternehmen inzwischen auf die neue Situation vorbereitet haben.

„Der Mittelstandsradar liefert in dieser spannenden Umbruchphase von Hochkonjunktur zu Konjunkturabschwung interessante Einblicke in die Entwicklung in den Unternehmen. Dabei ist er besonders aussagekräftig, da über 80 Prozent der Befragten Eigentümer, CEO oder Finanzvorstände des jeweiligen Unternehmens sind“, sagt Prof. Dr. Bernhard Boockmann, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung e.V. (IAW) an der Universität Tübingen. Das Institut hatte im März im Auftrag der LBBW in der repräsentativen Umfrage die Antworten von knapp 240 Entscheidungsträgern mittelständischer Unternehmen nach Entwicklungen, Einschätzungen und Absichten ausgewertet. Der Mittelstandsradar ist ein bedeutender innovativer Gradmesser der wirtschaftlichen Lage und erscheint seit dem Frühjahr 2018 halbjährlich.

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