14.06.2022
Neue Zeiten, bessere Zeiten?
Deutschland muss sich vom Verbrennermotor verabschieden – und von Gaslieferungen aus Russland. Die LBBW-Experten sehen „einen beispiellosen Kraftakt“ voraus.
Der Krieg in der Ukraine verändert die Tektonik unseres Denkens. Bundeskanzler Olaf Scholz hat dafür den Begriff der Zeitenwende geprägt. Welche Folgen hat sie für die Automobilhersteller und die Energieversorger, zwei Schlüsselindustrien der deutschen Wirtschaft? Ist die Zeitenwende für sie auch eine Wende zum Besseren?
Der Klimawandel und die daraus notwendigen Veränderungen im Denken über Mobilität hat die deutsche Autowirtschaft mit ihren rund 800.000 direkt beschäftigten Menschen zunächst auf dem falschen Fuß erwischt. Seit einigen Jahren aber geben die Autohersteller mächtig „Strom“. Die Zeit drängt: Vor wenigen Tagen haben die EU-Parlamentarier und -Parlamentarierinnen ein effektives Verbot für Neuwagen mit Benzin- oder Dieselantrieb auf den Weg gebracht. Ihr Ziel: Autohersteller zu verpflichten, die CO2-Emissionen ihrer neuen Modelle auf 0 Prozent zu senken. Nach 2035 würde ein Verkauf von Autos mit Verbrennermotor mit hohen Strafen geahndet werden.
Auf dem Weg zur klimaneutralen Mobilität
Das Verbot von Verbrennern ist eine wesentliche Etappe auf dem Weg zu einem klimaneutralen Europa: 2050 soll dieses Ziel erreicht werden. Schon bis zum Jahr 2030 sollen die CO2-Emissionen um 55 Prozent gesenkt werden. Um dieses Zwischenziel zu erreichen, hat die EU das Maßnahmenpaket „Fit for 55“ geschnürt. Dabei wird nicht nur auf die Unternehmen selbst geschaut, sondern auch auf ihre Lieferanten: Auch sie sollen nachhaltig wirtschaften. Das neue Lieferkettengesetz zwingt die Unternehmen dazu, jeden Faden, der zum Vernähen des Sitzes benötigt wird, auf seine Richtigkeit zu überprüfen. Wo kommt der Rohstoff her? Wie wird er verarbeitet, gefärbt und schließlich vernäht? Allein BMW soll mehr als 30.000 Zulieferer haben. Die Lieferkette lückenlos darstellen zu können, hat bei den Herstellern zu einem Digitalisierungsschub geführt. Prozesse und Strukturen mussten neu gedacht werden. Mit Strichlisten ist dem Lieferkettengesetz nicht beizukommen.
Die Zukunft der Mobilität ist mehr als Stromern, es geht um emissionsfreie Produktion oder um die Reduzierung umweltschädlicher Rohstoffe. BMW wird durch den Einsatz von Photovoltaik und Geothermie bis 2025 in Ungarn das weltweit erste Werk eröffnen, in dem komplett klimaneutral Autos vom Band laufen. Zero Emission nicht nur beim Fahren, zero Emission auch bei der Produktion. Die kommende Generation der E-Motoren, heißt es bei den Herstellern und Zulieferern, kann auf den Einsatz umweltschädlicher seltener Erden verzichten. Es tut sich was. Es tut sich vieles.
Autoindustrie entwickelt unglaubliche Dynamik.
Matthias Pohl analysiert bei der LBBW die Autoindustrie. Für ihn gibt es Hunderte von Beispielen, bei denen die Zeitenwende viel Positives hervorbringt. „Da ist eine unglaubliche Dynamik entstanden“, attestiert er der Autobranche. „Es gibt einen Technologie-Push.“
Der Druck war und ist immens. Kunden verlangen mehr und mehr nach klimafreundlichen Autos. Der Gesetzgeber fordert und fördert. Lieferkettengesetz, Flottenverbrauch, THG-Quote … Und Investoren sehen genau hin.
Neue Konzepte werden Ladegeschwindigkeit und Energiedichte der E-Batterie deutlich verbessern. Das heißt: mehr Reichweite.
Sektorexperte Pohl ist sich sicher, dass zumindest auf Sicht der kommenden zehn Jahre batterieelektrisches Fahren die Zukunft gehört. „Die Pkw-Hersteller haben sich auf den Technologiepfad eingeschworen. Das ist nicht von heute auf morgen zu ändern. Zudem ist es die effizienteste Lösung, um mit den limitierten regenerativen Energieressourcen umzugehen.“ Auch in der Batterie an sich wird es Technologiesprünge geben. „Neue Rezepturen und Konzepte werden die Ladegeschwindigkeit und Energiedichte deutlich verbessern“, sagt LBBW-Experte Pohl. „Das heißt: mehr Reichweite mit gleichem Batterievolumen.“
Wer mit Tempo 200 rast, hat die Zeichen der Zeit nicht erkannt.
Gleichzeitig werde weiter an synthetischen Fuels geforscht, sagt Sektorexperte Pohl, auch die Brennstoffzelle sei langfristig immer noch im Rennen. Visionäre Ideen wie Lacke, die mit Photovoltaik-Zellen durchsetzt sind und den Pkw damit zur fahrenden Ladestation machen, sieht er indes allenfalls in frühen Entwicklungsstufen. Ähnlich wie die Idee, alle Straßen mit Induktionsschleifen zu versehen. Fahren und Laden in einem. „Bei den notwendigen Investitionskosten ist das derzeit unmöglich“, sagt Pohl.
Das mit Abstand größte Potenzial sieht Pohl allerdings in einem veränderten Verhalten. Wenn die von Gegnern als Umweltsünder kritisierte G-Klasse von Mercedes zum Beispiel nicht einmal mehr bis 2024 bestellbar ist, weil überausverkauft, spricht das noch nicht für ein zukunftsfähiges Verhaltensmuster der Autofahrer. Wenn Tempo 200 und mehr immer noch als Freiheitsgeschwindigkeit auf den Autobahnen anerkannt ist, dann müsse sich auch dort etwas ändern. „Da muss und wird noch einiges passieren“, sagt Pohl. Er ist sich sicher: Bis Ende des Jahrzehnts werden in Europa mehr batterieelektrische Pkws als reine Verbrennerfahrzeuge zugelassen.
Zeitenwende in der Energiewirtschaft
Vor ähnlich massiven Veränderungen steht auch die deutsche Energiewirtschaft. In den vergangenen Jahren – zumindest seit dem Reaktorunglück in Fukushima – war der Veränderungsdruck bereits immens. Weg von Atomkraft, weg von Steinkohle, weg von Braunkohle war die Devise. „Massive Herausforderungen“ nennt das Marcel Zürn, Energie-Experte der LBBW. Die Politik habe in den vergangenen zwei Dekaden sehr stark auf den Klimafaktor und den Ausbau der erneuerbaren Energien geschielt. Mit dem Krieg in der Ukraine habe sich das Pflichtenheft komplett verändert. „Jetzt geht es um Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit.“ Der Umweltgedanke sei zumindest übergangsweise dem hohen Lied der „Freiheitsenergie“ gewichen.
In der Energiewirtschaft geht es jetzt verstärkt um Versorgungssicherheit, um „Freiheitsenergie“.
Zürn konstatiert der Politik einen neuen Pragmatismus. Ein wenig weniger Ideologie, ein bisschen mehr machen, was geht. So ist der Bau des LNG-Terminals bei Brunsbüttel quasi über Nacht entschieden worden; die Bundesregierung beteiligt sich mit 50 Prozent an dem Projekt, gemeinsam mit RWE und Gasunie Deutschland Transport Services. Auch die endlosen Genehmigungsverfahren zum Bau von Windkraftanlagen wurden zuletzt beschleunigt. Ähnlich sieht es bei Photovoltaik aus: „Bereits dieses Jahr werden mehr als 60 Gigawatt PV-Leistung in Deutschland installiert sein“, so Zürn. Selbst bislang als völlig unrealistisch eingestufte Ziele, wie in acht Jahren einen Zubau auf 215 Gigawatt zu schaffen, sind zwar äußerst ambitioniert, aber plötzlich denkbar und von der Politik klar formuliert.
„Es geht um die Frage, Licht an oder aus?“
Das brennendste Problem – um im Bild zu bleiben – ist und bleibt die Gasversorgung. Bis die jüngst unterzeichneten Verträge mit Algerien, Ägypten und Katar greifen und die Länder liefern, hat Kriegstreiber Putin die Hand am deutschen Lichtschalter. „Es geht schlicht um die Frage, Licht an oder aus?‘“, stellt Zürn nüchtern fest. „Das muss uns klar sein.“
Insofern sei der Umbau der deutschen Industriestrukturen auf eine dekarbonisierte Produktion mehr denn je eine alternativlose Zukunftsstrategie, sagt LBBW-Experte Zürn. Kurzfristig gehe es jetzt darum, die nächsten zwei Jahre zu überstehen und möglichst unabhängig von Energielieferungen aus Russland zu werden. Und dann kommt die Mammutaufgabe, „die komplette Wertschöpfungskette auf links zu drehen“, sagt Zürn und fügt hinzu: „Das wird ein beispielloser Kraftakt.“
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Dr. Marcel Zürn
Dr. Marcel Zürn arbeitete nach seinem Studium am Institut für Energiewirtschaft der Universität Stuttgart, bevor er zur Boston Consulting Group und zu Rolls Royce Power Systems wechselte. Früher war die Branche reguliert und durch klare Strukturen geprägt, sagt Zürn, heute sei durch den kompletten Umbau der Energiewirtschaft und wegen des Auftretens neuer Wettbewerber alles im Fluss. Zürn bringt sein umfangreiches Know-how ein, um mit neuen Impulsen die Herausforderungen der Energiewende zu meistern.
Matthias Pohl
Mit der Autobranche beschäftigte sich Matthias Pohl bereits als wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Fraunhofer Institut IPA sowie als Industrieexperte und Berater bei McKinsey. Als Sektorexperte für den Automobilbereich unterstützt er heute die Branche beim anstehenden Wandel. Mit dem Aufkommen der E-Mobilität sieht Pohl speziell auf die Zulieferer große Veränderungen zukommen und erwartet eine Verschiebung der Wertschöpfung in der Branche.