2024 bringt die Wende der Zinswende

Deutschland befreit sich im kommenden Jahr aus der Rezession, sagt LBBW-Chefökonom Dr. Moritz Kraemer im Interview. Trotzdem ist sein Optimismus gedämpft.

Chefvolkswirt Dr. Moritz Kraemer

Standpunkt: Zum Jahreswechsel schaut das LBBW Research nach vorn, Herr Dr. Kraemer. Also: Was erwartet uns 2024?

Moritz Kraemer: Was wollen Sie zuerst hören, die schlechte oder die gute Nachricht?

Standpunkt: Okay, bringen wir’s hinter uns – zuerst die schlechte Nachricht.

Moritz Kraemer: In den vergangenen drei Jahren folgte Krise auf Krise. Zuerst Corona, dann der Ukrainekrieg und in dessen Folge rasant steigende Energiepreise. Das hat viel Aufmerksamkeit gebunden. Sobald wir in Deutschland allerdings aus dem Krisenmodus in den Normalmodus wechseln, stellen wir fest, was in den vergangenen Jahren alles schiefgelaufen ist. Um nur ein paar Stichworte zu nennen: demografischer Niedergang, Exportabhängigkeit in einer zunehmend fragmentierten Weltwirtschaft, Investitionsstau bei Infrastruktur und Digitalisierung, Abhängigkeit von Energielieferanten. Das alles sind strukturelle Defizite, die wir zu lange verdrängt haben und die wir dringend angehen müssen.

Standpunkt: Und die gute Nachricht?

Moritz Kraemer: Deutschland kriecht aus der Rezession heraus. Wir erwarten einen Anstieg des Bruttoinlandprodukts um 0,3 Prozent. Aber das klappt nur, wenn die Binnennachfrage tatsächlich wieder so ansteigt, wie wir vermuten. Aber da sind wir zuversichtlich, denn die Inflation sinkt. Daher haben die Verbraucher ein höheres Realeinkommen zur Verfügung und werden wieder mehr konsumieren.

0.3 %

an Zuwachs sieht LBBW Research für das deutsche Bruttoinlandsprodukt voraus, nachdem die gesamtwirtschaftliche Leistung 2023 um 0,2 Prozent gesunken ist.

Standpunkt: In den vergangenen Monaten ist die Inflation ja tatsächlich gesunken. Geht das 2024 so weiter?

Moritz Kraemer: Übers Jahr gerechnet kommt Deutschland 2023 immer noch auf eine Inflationsrate von 6,0 Prozent. Im kommenden Jahr rechnen wir mit einer Inflationsrate von 2,8 Prozent. Das ist einerseits eine Halbierung, andererseits liegt dieser Wert weiterhin deutlich über der Messlatte der Preisstabilität, denn die liegt bei 2,0 Prozent.

2.8 %

wird die Inflationsrate 2024 in Deutschland laut LBBW Research betragen, nachdem sie 2023 bei 6,0 Prozent liegt.

Standpunkt: Sind die allmählich sinkenden Inflationsraten für die Zentralbanken ein Wink mit dem Zaunpfahl, die Leitzinsen zu senken?

Moritz Kraemer: Ja. In der zweiten Jahreshälfte 2024 beginnt die Wende der Zinswende. Die Notenbanken werden die Leitzinsen wieder zurücknehmen. Uns ist bewusst, dass sich insbesondere die Fed die Entscheidung nicht leicht machen wird, eine Wende einzuläuten. Nicht nur die psychologischen Nachwirkungen des zurückliegenden Inflationsschocks sprechen für ein zögerliches Vorgehen. Das wird auch Anleger freuen, die sich für Staatsanleihen entschieden hatten. Sie haben in den beiden vergangenen Jahren einer schwierigen bis katastrophalen Wertentwicklung zusehen müssen. Für sie hellen sich die Aussichten auf, denn wir sind zuversichtlich, dass die Fed vorangehen und die Leitzinsen senken wird. Die EZB wird ein paar Wochen oder Monate später folgen. Auf eine radikale Trendwende in der Geldpolitik darf allerdings niemand hoffen. Die Notenbanken wollen hier kein unnötiges Risiko eingehen: Würde man die Zinsen zu rasch senken und die Inflation hernach wieder nach oben ticken, dann müsste man die Zinsen womöglich wieder anheben. Ein solches Hin und Her wäre der Glaubwürdigkeit der Geldpolitik sehr abträglich. Wir erwarten den EZB-Zinssatz Ende 2024 bei 3,5 Prozent, also nur 50 Basispunkte unter dem derzeitigen Niveau. Den US-Spitzensatz verorten wir bei 4,50 bis 4,75 Prozent, das wären 75 Basispunkte weniger als aktuell.

3.5 %

beträgt der Leitzinssatz der EZB zum Jahresende 2024, prognostiziert LBBW Research. Fallen wird er voraussichtlich allerdings erst in der zweiten Jahreshälfte.

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Standpunkt: Damit nimmt die Konjunktur und das Wirtschaftswachstum weltweit wieder an Fahrt auf?

Moritz Kraemer: Fahrt aufnehmen schon, aber mit angezogener Handbremse. Über Deutschland haben wir schon gesprochen, aber auch in den USA sieht es für das kommende Jahr nur ein wenig besser aus. Wir erwarten für die erste Jahreshälfte 2024 sogar eine Rezession in den Vereinigten Staaten. Der Streit um Haushaltsobergrenzen führt in jedem Fall dazu, dass die Staatsausgaben stagnieren. Zudem müssen seit Oktober rund 40 Millionen US-Bürger wieder ihre Studienkredite zurückzahlen und können so die Binnennachfrage entsprechend weniger ankurbeln. Auch bei den Unternehmen rechnet das LBBW Research mit einer sinkenden Nachfrage, nachdem die US-Firmen ihre während der Pandemie leergefegten Lager wieder aufgefüllt haben. Mehr als 1,0 Prozent an Plus sehen wir nicht für die USA, und das wirkt sich weltweit aus, zumal sich auch das Wachstum in China voraussichtlich verlangsamen wird. Deshalb erwarten wir für die Weltwirtschaft ein Plus von 2,6 Prozent – weniger als in diesem Jahr. Und weit unter dem Durchschnitt von 3,6 Prozent seit der Jahrtausendwende.

Standpunkt: Das sind keine rosigen Aussichten für die Aktienmärkte.

Moritz Kraemer: Im kommenden Jahr dürften die Aktienmärkte zunächst eher Gegenwind verspüren. Die Gewinnerwartungen von Anlegern, die deutsche Aktien für Schnäppchen halten, sind nach Ansicht des LBBW Research zu optimistisch. In den USA wiederum sind die Bewertungen derzeit außergewöhnlich hoch. Auf beiden Seiten des Atlantiks wird die Reise deshalb erst einmal seitwärts gehen. Wir erwarten, dass die Börsen erst mit nahenden Leitzinssenkungen wieder Rückenwind erhalten. Der DAX dürfte dann bis zum nächsten Silvester auf 18.000 Punkte steigen, der EuroStoxx50 auf 4.700 Zähler.

18000 Punkte

wird der Dax zum Jahresende 2024 erreichen, erwartet LBBW Research.

Standpunkt: Das klingt, mit Verlaub, doch vorsichtig optimistisch.

Moritz Kraemer: Mehr „vorsichtig“ als „optimistisch“. 2024 wird wohl eine Enttäuschung werden. Wir müssen in Deutschland die strukturellen Defizite endlich angehen. Was den Zustand der Infrastruktur angeht – ob Schulen oder Krankenhäuser, Autobahnbrücken oder Gleisnetze –, da sind wir europaweit immer weiter zurückgefallen. Vielleicht können wir uns noch ein paar Jahre durchmogeln, bis der Leidensdruck zu groß wird. Aber früher oder später müssen wir investieren, sonst werden die folgenden Jahre noch enttäuschender ausfallen als 2024. Aussitzen ist keine Option mehr.

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