„Wir werden mehr Steuereinnahmen abzwacken müssen für den Schuldendienst“

Anleger freuen sich, weil sie für Staatsanleihen wieder Zinsen erhalten. Warum die Freude für alle anderen getrübt ist, erklärt LBBW-Chefökonom Dr. Moritz Kraemer.

Chefvolkswirt Dr. Moritz Kraemer

LBBW Standpunkt: Die Renditen für Staatsanleihen steigen. In Deutschland kratzen sie an den 3 Prozent, in den USA an den 5 Prozent. „Endlich wieder Zinsen!“, freuen sich Anleger. Freuen Sie sich auch?

Moritz Kraemer: Als Anleger kann ich mich freuen über Zinsen für Staatsanleihen, die wahrscheinlich bald schon über der Inflationsrate liegen werden. Das ist ein rentables Investment. Als Volkswirt ist meine Freude getrübt, denn für den deutschen Finanzminister wird diese Entwicklung eine echte Herausforderung.

LBBW Standpunkt: Was gut ist für Investoren, ist schlecht für den Staat?

Moritz Kraemer: In der lang anhaltenden Niedrigzinsphase hatten auch die Bundesanleihen entsprechend niedrige Zinssätze. Damit hat sich der Staat sozusagen kostenfrei verschulden können. Das ändert sich jetzt. Die Staatsschulden in Deutschland belaufen sich auf etwa 66 Prozent des BIP, also des Bruttoinlandsprodukts. Wenn sich die Zinsen im Schnitt um 2 Prozent erhöhen – und gegenüber der Nullzinsphase ist das durchaus realistisch –, dann werden die Finanzministerinnen und Finanzminister von Bund und Ländern jedes Jahr 1,3 Prozent des BIP zusätzlich an Zinsdienst berappen müssen. Das sind mehr als 55 Milliarden Euro, Tendenz steigend.

LBBW Standpunkt: Ab wann kommt den Finanzministern – und damit uns – der Schuldendienst richtig teuer?

Moritz Kraemer: Die durchschnittliche Laufzeit der Bundesschuld liegt bei etwa sieben Jahren. Wir stehen sozusagen am Anfang des Hügels: Der Aufstieg wird Jahr für Jahr steiler und damit anstrengender und mühsamer. Das war einfacher, als sich das Staatsbudget vor allem aufgrund der niedrigen Zinssätze für Staatsanleihen konsolidieren ließ. Zwischen 2011 und 2022 hatten sich die Zinsausgaben der öffentlichen Hand um 2 Prozent des BIP reduziert! Diese Erfolge sind, etwas überspitzt formuliert, weniger dem früheren Finanzminister Wolfgang Schäuble als dem damaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi zuzuschreiben.

Wir haben uns so daran gewöhnt, dass der Staat uns keine Härten zumutet, dass wir zu Konjunkturstimulierungsjunkies geworden sind.

Dr. Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der LBBW

LBBW Standpunkt: Diese entspannten Zeiten sind vorbei. Ist in der Bundespolitik schon spürbar angekommen, was da an Herausforderungen auf sie zukommt?

Moritz Kraemer: Bereits die Haushaltsberatungen für den Etat 2024 waren erkennbar schwierig – und es wird noch schwieriger werden. Es werden jetzt Jahr für Jahr mehr Steuereinnahmen abgezwackt werden müssen für den Schuldendienst. Dabei sollten und müssten wir das Geld für sinnvollere Aufgaben einsetzen.

LBBW Standpunkt: Damit der Staat die Konjunktur stimuliert?

Moritz Kraemer: Nein, davon müssen wir wegkommen. Wir haben uns durch Corona- und Gaskrise so daran gewöhnt, dass der Staat uns keine Härten zumutet, dass wir zu Konjunkturstimulierungsjunkies geworden sind. Wie an der aktuellen Debatte über verbilligten Strom für die Industrie zu sehen ist, weckt solches Verhalten neue Begehrlichkeiten. Dabei sollten wir den Blick auf die wirklich wichtigen Aufgaben lenken.

LBBW Standpunkt: An welche „wirklich wichtigen Aufgaben“ denken Sie?

Moritz Kraemer: Seit mindestens zwei Jahrzehnten ist zu viel liegen geblieben an Zukunftsinvestitionen. Wenn ich mir den Zustand der Infrastruktur anschaue – ob Schulen oder Krankenhäuser, Autobahnbrücken oder Gleisnetze –, dann muss ich sagen: Da sind wir schwach, da liegen wir europaweit ganz hinten. Hier müssen wir investieren und das muss irgendwie gesteuert werden. Denn wir dürfen nicht vergessen: Die Steuereinnahmen werden nicht nur für den Erhalt der Infrastruktur gebraucht. Die vom Bundeskanzler ausgerufene „Zeitenwende“ erfordert beispielsweise erhebliche Mehrausgaben für die Verteidigung. Vergessen wir nicht den demografischen Wandel: Es wird immer mehr alte Menschen in Deutschland geben, die immer mehr Aufwendungen für Rente, Pflege und Gesundheitsfürsorge verursachen werden. Und da haben wir Digitalisierung und Energiewende noch gar nicht erwähnt. Wenn man das alles zusammenrechnet, kommt man schnell auf 5 Prozent des BIP! Derartige Größenordnungen können Sie im Budget nicht anderswo einsparen. Unmöglich!

Wir sollten uns ganz grundsätzlich fragen, wie wir öffentliche Mittel einsetzen, um mehr Dynamik in der Wirtschaft zu entfachen.

Dr. Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der LBBW
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LBBW Standpunkt: Es gibt also weniger Geld für immer mehr Aufgaben. Wird diese Botschaft gehört?

Moritz Kraemer: Gehört ja, und dann gedanklich weggedrückt. Das gilt für die meisten Menschen in Deutschland, und Politikerinnen und Politiker sind ja auch nur Menschen. Dazu kommt, dass die Ampelregierung in Berlin sich selbst die Hände gebunden hat. Sich auf ein größeres Defizit einzulassen, um dringend anstehende Investitionen anzugehen, verbietet die Schuldenbremse. Die Steuern zu erhöhen, um die Einnahmen zu steigern, ist ebenfalls unmöglich: Das haben SPD, Grüne und FDP im Koalitionsvertrag so festgeschrieben.

LBBW Standpunkt: Stillstand also. Wie kriegt man Bewegung in die Debatte?

Moritz Kraemer: Wir müssen heraus aus dem Klein-Klein, wer wem am Budget knabbert. Die Logik ist: „Wo können wir nehmen, um anderswo zu geben?“ Das führt im politischen Alltag häufig dazu, dass kleinen Gruppen mit guter Interessensvertretung gegeben wird – und der Rest der Menschen hat nichts davon. Wir sollten uns ganz grundsätzlich fragen, wie wir öffentliche Mittel einsetzen, um mehr Dynamik in der Wirtschaft zu entfachen.

LBBW Standpunkt: Okay, dann fragen wir mal: Wie setzen wir öffentliche Mittel ein, um mehr Dynamik zu entfachen?

Moritz Kraemer: Die Schuldenbremse ist zu rigide. Wir brauchen ein flexibleres System, das Investitionen leichter ermöglicht – damit fängt es an.

LBBW Standpunkt: Das wird in dieser Legislaturperiode wohl nicht mehr passieren, auch wenn erst im Herbst 2025 neu gewählt wird …

Moritz Kraemer: Die Bundespolitik muss sich alle vier Jahre den Wählerinnen und Wählern stellen und die lieben Bonbons mehr als Lebertran – den mag keiner haben. Dazu kommen verstärkt populistische Thesen, die für komplexe Probleme scheinbar einfache Antworten anbieten und damit Wähler anziehen. Das macht es noch schwieriger, die Debatte ehrlich zu führen.

LBBW Standpunkt: Das klingt jetzt pessimistisch …

Moritz Kraemer: Ach, so pessimistisch bin ich gar nicht. Wir können uns noch ein paar Jahre durchmogeln, bis der Leidensdruck zu groß wird. Wer die Entwicklung der Anleihezinsen als Frühwarnsystem nutzt und politischen Mut mit Weitsicht koppelt, der kann sich schon heute auf den unausweichlich nötigen Kassensturz vorbereiten. Mehr öffentliche Ausgaben für Zukunftsausgaben lassen sich auf Dauer nicht mit harter Schuldenbremse und Steuererhöhungstabu vereinbaren. Die Politik wird sich bewegen – spätestens, wenn sie muss.