Kein Run zurück nach Europa

Der Mittelstand denkt weiterhin global: Norwin Graf Leutrum von Ertingen, Vorstandssprecher der BW-Bank, erläutert die Ergebnisse des aktuellen Mittelstandsradars.

Geschäftsmann mit Stift betrachtet Monitor

LBBW Standpunkt: Wer dieser Tage die Wirtschaftspresse liest, stößt regelmäßig auf vier Begriffe: Derisking, Decoupling, Deglobalisierung und Deindustrialisierung. Was verbirgt sich dahinter?

Norwin Graf Leutrum: Bei den ersten drei Begriffen geht es darum, globale Lieferketten auf den Prüfstand zu stellen und Abhängigkeiten von bestimmten Lieferanten und Produktionsstandorten im Ausland zu reduzieren oder sogar auf null zu stellen. Deindustrialisierung betrifft hingegen die Angst vor einer Abwanderung der Industrie aus Deutschland im großen Stil. Das sind alles Themen, die aktuell viele unserer mittelständischen Unternehmenskunden beschäftigen. Denn sie pflegen nicht nur enge Handelsbeziehungen zu internationalen Lieferanten und Kunden, sondern betreiben häufig auch eigene Produktionsstandorte im Ausland. Krisen wie die Coronavirus-Pandemie und der russische Angriffskrieg auf die Ukraine sowie der sich verschärfende Ton in den politischen Beziehungen zu China haben diesen Unternehmen zuletzt die Fragilität vieler globaler Lieferketten und Handelsbeziehungen vor Augen geführt. Das gilt nicht nur für wichtige Energie- und andere Rohstoffe, allen voran Erdgas und Erdöl, sondern auch für Halbleiter, Technikkomponenten und Vorprodukte, insbesondere aus China. Nicht zuletzt sind sie als deutsche Unternehmen aber auch von den Herausforderungen an ihrem heimischen Standort Deutschland betroffen, etwa den hohen Energiepreisen oder dem Fachkräftemangel.

LBBW Standpunkt: Die globalen Verflechtungen sind vielfältig. Welche strategischen Ansätze sehen Sie für die deutschen Unternehmen?

Norwin Graf Leutrum: Mit Blick auf Russland zum Beispiel ist die Sache klar: Seit dessen kriegerischem und menschenverachtendem Angriff auf die Ukraine ist ein Decoupling, also die weitestmögliche Entkopplung aller wirtschaftlichen Verbindungen, unvermeidbar und politisch gewünscht. Im Hinblick auf andere kritisch zu beurteilende Handelspartner könnte sich eine solche Strategie jedoch als gefährlich erweisen. In diesem Zusammenhang erscheint es mir lobenswert, dass die Bundesregierung in ihrer im Juli vorgelegten sogenannten China-Strategie das Reich der Mitte zwar als Wettbewerber und systemischen Rivalen, aber weiterhin auch als wirtschaftlichen Partner sieht. Im Mittelpunkt der Strategie steht ein Risikoabbau, um zu starke wirtschaftliche Abhängigkeiten von China zu justieren. Also ein Derisking, aber eben kein Decoupling. Aus meinen Gesprächen mit Unternehmerinnen und Unternehmern weiß ich, dass in vielen Firmen bereits über eine Diversifizierung der Lieferantenbeziehungen nachgedacht wird. Bei der Umfrage zum „Mittelstandsradar 2023“ hat unser LBBW Research herausgearbeitet, dass sich 41 Prozent der dabei befragten, überwiegend baden-württembergischen mittelständischen Unternehmen eine stärkere Diversifizierung ihrer Einkäufe im Ausland vorstellen können. Fast ebenso viele denken über eine Verkürzung der Lieferwege nach. Dafür würde ein Viertel der Unternehmen sogar prinzipiell auf Kostenvorteile verzichten.

Norwin Graf Leutrum von Ertingen, Vorstandssprecher der BW-Bank

Den großen Run deutscher Unternehmen zurück nach Europa sehe ich nicht. Das ist Wunschdenken!

Norwin Graf Leutrum von Ertingen, Vorstandssprecher der BW-Bank

LBBW Standpunkt: Wie sieht es bezüglich einer möglichen Verlagerung ausländischer Produktionsstandorte aus ferneren Ländern zurück nach Deutschland oder Europa aus?

Norwin Graf Leutrum: Den großen Run zurück nach Europa sehe ich nicht. Das ist Wunschdenken! Unter jenen überwiegend größeren Mittelständlern, die Produktionsstandorte im Ausland haben, gibt es meines Wissens nur einzelne, die strategisch erwägen, zumindest einen Teil ihrer Produktion in heimische Gefilde zurückzuverlagern oder entsprechende Partnerschaften einzugehen. Wir sehen das zum Beispiel im Automobilbereich. Da geht es dann vor allem darum, durch eine Diversifizierung von Zulieferern einem möglichen Produktionsstillstand vorzubeugen. Das ist aber eher die Ausnahme. Nach wie vor sprechen vielfältige Gründe für die Globalisierung: etwa die Nähe zu wichtigen Absatzmärkten und Lieferanten, niedrige Transport- und wettbewerbsfähigere Standortkosten oder ein ausreichendes Arbeitskräfteangebot. Wenn es eine Bewegung bei Produktionsstandorten gibt, dann eher in Richtung der Nachbarländer bestehender Standorte.

LBBW Standpunkt: Sind diese Bewegungen auch in China zu spüren?

Norwin Graf Leutrum: Gewiss. Wenn wir auf Deutschlands wichtigsten Handelspartner blicken, so investieren einige der dort mit eigenen Produktionsstandorten aktiven größeren deutschen Unternehmen mittlerweile tatsächlich auch in Produktionskapazitäten außerhalb des Reichs der Mitte. Diese bleiben jedoch zumeist ebenfalls in Asien, etwa in Südkorea, Vietnam oder Indien. Die Risikodiversifizierung erfolgt also nicht in Richtung Europa oder gar Deutschland, sondern in der geografischen Nähe des weiterhin wichtigen Absatzmarktes China. Ein ähnliches Bild zeigt sich beispielsweise auch in Mexiko. Dort geht es für unsere deutschen Unternehmenskunden vor allem darum, präsent zu sein, wo sich lukrative Absatzmärkte befinden – in diesem Fall das nahe Nordamerika. Bei der Planung von Produktionsstandorten steht immer im Vordergrund, wo sich Märkte erfolgversprechend weiterentwickeln und wie der Zugang gelingen kann.

Eine der größten Hürden für Investitionen in Deutschland ist die überbordende Regulatorik. Genehmigungsverfahren dauern hierzulande bis zu drei Mal so lange wie in anderen Ländern.

Norwin Graf Leutrum von Ertingen, Vorstandssprecher der BW-Bank
Laechelnder Geschaeftsmann mit Tablet am Fenster

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LBBW Standpunkt: Einige Politiker und Wirtschaftsexperten befürchten eine mögliche Deindustrialisierung Deutschlands. Eine berechtigte Sorge?

Norwin Graf Leutrum: Ein solches Szenario halte ich für übertrieben. Dem „Mittelstandsradar 2023“ zufolge streben gut zwei Drittel der mittelständischen Industrieunternehmen hierzulande in den kommenden zehn Jahren keine Verlagerung ihrer betrieblichen Aktivitäten ins Ausland an. Für sie scheint der Produktionsstandort Deutschland also im internationalen Vergleich nach wie vor attraktiv genug zu sein. Auf der anderen Seite gibt es aber auch negative Tendenzen. Ein Beispiel: Für viele große Unternehmen war eine Verlagerung von Forschung und Entwicklung ins Ausland lange Zeit ein Tabuthema. Das hat sich geändert. So werden etwa die Produkte für den Absatzmarkt China mittlerweile auch dort entwickelt, weil sie andere Standards und Normen erfüllen müssen als in Deutschland oder Europa. Ähnliches gilt für den nordamerikanischen Markt. Wir sehen zudem, dass Erweiterungsinvestitionen in der Breite nicht mehr in Deutschland stattfinden.

LBBW Standpunkt: Wo hakt es diesbezüglich beim Industriestandort Deutschland?

Norwin Graf Leutrum: Eine der größten Hürden für Investitionen in Deutschland ist meines Erachtens die überbordende Regulatorik. Genehmigungsverfahren dauern hierzulande bis zu drei Mal so lange wie in anderen Ländern. Und es geht immer wieder auch um Kosten: Selbst bei unseren Nachbarn in der Schweiz bieten sich Unternehmen mit Blick auf die Lohnkosten teilweise attraktivere Bedingungen als in Baden-Württemberg. Die großen Automobilzulieferer investieren hierzulande schon heute nicht mehr über das Notwendige hinaus. Das ist eine bedenkliche Entwicklung mit Langzeitwirkung.

Die Unternehmen müssen sich wieder stärker auf ihre unbestrittenen Fähigkeiten besinnen und kraftvoll die Zukunft als Chance angehen.

Norwin Graf Leutrum von Ertingen, Vorstandssprecher der BW-Bank

LBBW Standpunkt: Welche Möglichkeiten sehen Sie, dieser Entwicklung entgegenzutreten?

Norwin Graf Leutrum: Aus der Befragung von LBBW Research geht hervor, dass auch von den Unternehmen, die Pläne für eine Abwanderung aus Deutschland schmieden, viele lieber bleiben würden – wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Das deckt sich mit meinen Erfahrungen. Gefordert werden seitens der Unternehmen vor allem eine stärkere Deregulierung, ein echter bzw. spürbarer Bürokratieabbau, ein Ausbau der Infrastruktur – Stichwort Digitalisierung – und erfolgreiche Strategien, um dem Fachkräftemangel entgegenzuwirken. Deutschland hat weiterhin viele Standortvorteile: eine insgesamt funktionierende Infrastruktur, ein hohes Bildungs- und Ausbildungsniveau und politische Stabilität – um nur einige zu nennen. Den ganz großen Wirtschaftspessimismus teile ich ausdrücklich nicht. Nichtsdestotrotz sind Aufbruch und Kräftebündeln angesagt.

LBBW Standpunkt: Das bedeutet?

Norwin Graf Leutrum: Zum einen muss die Politik wieder für verlässlichere Rahmenbedingungen sorgen. Die Unternehmen müssen sich wieder stärker auf ihre unbestrittenen Fähigkeiten besinnen und kraftvoll die Zukunft als Chance angehen. Besondere Stärken des familiengeführten Mittelstands sind seit jeher Kreativität, Innovationsgeist und Flexibilität. Ich glaube fest daran, dass unsere große Innovationskraft dazu führen kann, dass wir wieder wettbewerbsfähiger werden und Deutschland auf einen stabilen Wachstumspfad zurückkehren kann. Dafür – und das ist mein Appell an die Politik – müssen Unternehmer im genauen Wortsinn etwas unternehmen dürfen. Und dafür brauchen sie vor allem eines: unternehmerische Freiheiten.

LBBW Standpunkt: Wie sieht es dabei mit den finanziellen Freiheiten aus? Zu Investitionen gehören ja immer auch Finanzierungen …

Norwin Graf Leutrum: Hier sehe ich natürlich auch die BW-Bank als Teil des LBBW-Konzerns in der Pflicht. Aufgrund der Risikolage stehen auch bei uns Risikothemen wie die Besicherung von Bankkrediten wieder mehr im Vordergrund als in den vergangenen Jahren. Das heißt aber nicht, dass wir die Tür von innen zumachen und den Schlüssel wegwerfen, wie es einige ausländische Wettbewerber zum Beispiel in der Finanzkrise 2008/2009 getan haben. Im Gegenteil: Wir werden auch künftig an der Transformation der Wirtschaft aktiv mitwirken – ganz egal, ob es dabei um Investitionen in Deutschland oder im Ausland geht.