Exportweltmeister wird Deutschland wohl nie wieder

LBBW-Chefvolkswirt Dr. Moritz Kraemer sieht eine neue Aufgabe für den früheren Exportweltmeister Deutschland: endlich den rasanten Strukturwandel anzunehmen.

Zug mit Containern rollt am Bahnhof vorbei

Standpunkt: Deutschland war viermal Weltmeister im Fußball, dreimal im Handball und ist jetzt sogar Weltmeister im Basketball. Aber am allerliebsten ist Deutschland Exportweltmeister. Das sind wir sechsmal hintereinander gewesen, von 2003 bis 2008. Wann holen wir uns diesen Titel zurück?

Moritz Kraemer: Vermutlich nie. Die viel wichtigere Frage: Ist das überhaupt erstrebenswert?

Standpunkt: Nun ja: Deutschland hat eine traditionell exportorientierte Wirtschaft, die viele Menschen in Lohn und Brot hält.

Moritz Kraemer: Allerdings wäre es fahrlässig zu glauben, dass wir auch zukünftig mit Handelsüberschüssen wie in den vergangenen Jahrzehnten rechnen könnten. Honeymoon is over. Diese Sonderkonjunktur kommt nie wieder.

Standpunkt: Von welcher Sonderkonjunktur sprechen Sie?

Moritz Kraemer: Rund um das Jahr 2000 gab es zwei wichtige Entwicklungen: Die Eurozone wurde geschaffen und China öffnete sich den Märkten. Der Euro erlaubte es – weil er für unsere Unternehmen unterbewertet war – der deutschen Wirtschaft, kompetitiv in neue Märkte vorzudringen. Das hätte mit der D-Mark nie geklappt. Da sich gleichzeitig China öffnete, entstand dort eine riesige Nachfrage. Von dieser Nachfrage haben deutsche Unternehmen besonders stark profitiert, denn sie konnten die Güter liefern, die besonders gefordert waren: Maschinen und Autos.

Standpunkt: Beides ist doch gut für deutsche Unternehmen!?

Moritz Kraemer: Unbestritten. Deren Exportquote lag noch in den 1990er-Jahren etwa bei 20 Prozent, heute liegt sie bei 45 Prozent. Kein Land hat so von der Globalisierung profitiert wie Deutschland. Doch die Effekte dieser Sonderkonjunktur haben sich erschöpft. Was die Chinesen früher aus Deutschland importierten, stellen sie mittlerweile selbst her. Mehr noch: Sie konkurrieren mit deutschen Unternehmen in Drittmärkten. Dabei sind die Güter aus China meist billiger und manchmal sogar besser.

45 %

beträgt die Exportquote der deutschen Wirtschaft – mehr als doppelt so hoch wie noch in den 1990er-Jahren

Laechelnder Geschaeftsmann mit Tablet am Fenster

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Standpunkt: Sollte die Exportnation Deutschland also ihr Selbstverständnis hinterfragen?

Moritz Kraemer: Zumindest sollte sie sich damit arrangieren, kleinere Brötchen zu backen. Wir können einfach nicht mehr auf dem früheren Niveau weitermachen. Weil sich die Babyboomer allmählich aus dem Arbeitsleben verabschieden, verlieren wir derzeit jährlich rund 1 Prozent der Erwerbsbevölkerung. Und wer noch im Erwerbsleben steht, arbeitet immer weniger: Aufgrund der Teilzeititis kam Deutschland 2022 auf eine durchschnittliche Jahresarbeitszeit von 1341 Stunden je Erwerbstätigen – der OECD-Schnitt lag bei 1752 Stunden. In keinem der 38 OECD-Länder wird weniger gearbeitet als in Deutschland.

Standpunkt: Würden weniger Teilzeit- und mehr Vollzeitstellen helfen?

Moritz Kraemer: Ja, aber hier ansetzen zu wollen, hätte wenig Erfolgsaussichten. Sinnvoller ist es, die Produktivität zu erhöhen. Tatsächlich steigt die Produktivität, aber nicht im selben Ausmaß, wie die geleisteten Arbeitsstunden sinken. Wir können die Situation zusätzlich entlasten, wenn wir es den Menschen ermöglichen, nach dem Eintritt ins Rentenalter weiterzuarbeiten. Das entspannt die aktuelle Lage allerdings nur für ein paar Jahre. Ebenfalls hilfreich wäre eine geregelte Migration, doch für die gibt es – zumindest für eine Migration in großem Stil – keinen gesellschaftlichen Rückhalt. Das alles kann für keinen entscheidenden Durchbruch sorgen. Auch deshalb sehe ich im Moment vor allem die Politik gefordert: Sie muss Bürokratie abbauen, damit wir den dringend notwendigen Strukturwandel einleiten können.

Dr. Moritz Kraemer Chefvolkswirt und Leiter des Bereichs Research

Die Gemütsverfassung, die ich in Deutschland erlebe, will eher das Erreichte bewahren als den Strukturwandel offensiv anzugehen.

Dr. Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der LBBW

Standpunkt: Die Aufgabe „Bürokratie abbauen“ steht seit Jahrzehnten in jedem Koalitionsvertrag, egal welche Parteien an der Regierung sind. Es passiert allerdings eher das Gegenteil. Warum sollte das jetzt anders sein?

Moritz Kraemer: Tatsächlich vermisse ich Offenheit, den Strukturwandel offensiv anzugehen. Die Gemütsverfassung, die ich in Deutschland erlebe, will eher das Erreichte bewahren. Das sorgt für Abwehr, sobald etwas verändert werden soll. Aber allein mit einer guten Abwehr kann man kein Spiel gewinnen!

Standpunkt: Was paradox ist, weil gerade dieses abwehrende Verhalten letztlich dazu führt, dass wir das Erreichte eben nicht bewahren können.

Moritz Kraemer: Die Zeit des quasi automatischen Wachstums durch die Auslandsnachfrage ist vorbei. Jetzt müssen die Grundlagen für wirtschaftliche Entwicklung aus eigener Kraft gelegt werden. Die wichtigsten Zukunftstrends sind Digitalisierung und Energiewende – bei beiden sind deutsche Unternehmen keineswegs weltweit führend. Dieser Strukturwandel weg von den klassischen Industrien ist real, und er ist rasant. Die Nachfrage nach Produkten – nehmen wir nur die E-Mobilität – verändert sich. Und wenn deutsche Unternehmen die Nachfrage nicht bedienen können, wird sie eben von anderen bedient.

Die goldenen Jahre, in denen uns die Exportwirtschaft getragen hat, sind vorbei. Und sie kommen auch nicht wieder.

Dr. Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der LBBW

Standpunkt: Was heißt das für die deutsche Wirtschaft?

Moritz Kraemer: Die goldenen Jahre, in denen uns die Exportwirtschaft getragen hat, sind vorbei. Und sie kommen auch nicht wieder. Auch wenn die Ausrichtung auf den Export ein Merkmal der deutschen Wirtschaft bleiben wird: Wir müssen unser Wachstumsmodell nachkalibrieren und verstärkt auf Nachfrage innerhalb Deutschlands setzen. Und dazu braucht es dringend Investitionen – sowohl der Unternehmen als auch der öffentlichen Hand. Investitionen erhöhen die Produktivität und schaffen Umsatz und Nachfrage.

Standpunkt: Investitionen der öffentlichen Hand? Der Staat hat doch kein Geld!

Moritz Kraemer: Der Staat hat zurzeit kein Geld, weil er nicht mehr Geld haben will. Einsparpotenziale werden noch nicht ausreichend genutzt. Vor allem aber behindert man sich selbst mit dem Beharren auf die Schuldenbremse und dem Widerstand gegen Steuererhöhungen. Diese Investitionen müssen Hand in Hand gehen mit dem Abbau von Bürokratie. Wir alle kennen die Geschichten, wie lange sich der Genehmigungsprozess für ein einzelnes Windrad hinziehen kann: Das ist doch absurd! Solche Geschichten verunsichern Unternehmen und zerstören das Grundvertrauen der Wirtschaft in die Politik.

Standpunkt: Wie kriegen wir trotzdem noch die Kurve?

Moritz Kraemer: Die deutsche Wirtschaft läuft schon seit 2018 nicht mehr rund, als die Export-Sonderkonjunktur endgültig auslief. Wir sollten uns weniger auf den Export als auf den Strukturwandel konzentrieren. Hier in Deutschland haben wir eine Vielzahl von flexiblen Unternehmen mit technisch hochwertigen Produkten – das liefert die besten Voraussetzungen für einen erfolgreichen Strukturwandel. Was diese Unternehmen brauchen, ist politische Hilfestellung durch Planungssicherheit, Bürokratieabbau und komplementäre Investitionen der öffentlichen Hand. Eigentlich sind wir startbereit – jetzt müssen wir nur noch schnell die Sportschuhe schnüren.