„Wenn Diversity die Antwort ist, wie lautete dann die Frage?“

Um kreativ zukunftsfähige Lösungen zu erreichen, sollten Unternehmen divers aufgestellt sein. Warum das anstrengend ist, erzählt Diversity-Expertin Sophia Rödiger.

Diverses Team steht zusammen um Flipchart

LBBW Standpunkt: Überall ist zu hören, wie en vogue und notwendig Diversity ist. Es steht auf Hochglanzfolien und wird zum zentralen Element von Imagefilmen …

Sophia Rödiger: Kritisch sehe ich hierbei, dass der Wert „Diversität“ oft sehr pauschal ausschließlich auf der Unternehmensschauseite thematisiert wird. Damit verlieren wir meist zwei Dinge aus dem Fokus: was wir mit Diversity überhaupt erreichen wollen und was die konkreten Handlungsschritte sind, damit Vielfalt auf allen Ebenen kultiviert wird. Die Folge: Das Reden über Diversity wird oft als leere Worthülsen wahrgenommen, weil wir eben nicht über das konkrete Tun, nicht über die Macherenergie reden.

LBBW Standpunkt: Also reden wir über das konkrete Tun. Wir haben dafür ein paar Vorbehalte gegenüber Diversity gesammelt. Der erste: Diversity ist anstrengend.

Sophia Rödiger: Den Austausch in homogenen Gruppen erlebe ich oft als effizient, aber eben auch als eintönig und gefährlich harmonisch. Im Gegensatz dazu kann Diversity erst einmal viel Reibung erzeugen und ja, das ist manchmal auch anstrengend. Durch Reibung entsteht allerdings auch Energie, und genau diese Spannung ist in vielen Fällen gewollt. Wir wollen mehr unterschiedliche Meinungen, Einstellungen, Attribute und Interessen. Sonst werden rechts und links des Weges bestimmte Kundeninteressen und mögliche Innovationen ignoriert – weil sie einfach nicht gesehen werden. Diese Perspektiven, Daten und Bedürfnisse zu etwas Neuem zusammenzubringen, das nicht Kompromiss, sondern Win-win ist, kann anstrengender und zeitintensiver sein. Studien belegen allerdings auch eindeutig: Dies sichert Unternehmen den Wettbewerbsvorteil.

LBBW Standpunkt: Zweiter Vorbehalt: Unternehmen wollen möglichst schnell zu Entscheidungen kommen. Genau das vereiteln ausufernde Diskussionen in divers zusammengesetzten Gremien.

Sophia Rödiger: Die entscheidende Frage ist immer: Hilft mir Diversity, das gesteckte Ziel zu erreichen? Wenn ich in einem kreativen Prozess bin und/oder ich möchte etwas Neues entwickeln und dafür die Kundenperspektiven einholen, ist es ausgesprochen sinnvoll, diverse Teams zusammenzustellen. Oder ich möchte unterschiedliche Talente für mein Unternehmen gewinnen, dann stehen diverse Führungspersönlichkeiten als Vorbilder für genau solch eine Unternehmenskultur. Hier helfen uns Strukturen und Räume, die Vielfalt belohnen und zulassen. Wenn es manchmal einfach darum geht, schnell eine Entscheidung zu treffen, muss dies nicht immer basisdemokratisch, unter Einbindung aller Meinungen und Expertisen sein.

Sophia Rödiger, Diversity-Expertin und Gründerin der Transformationsberatung MountainMinds

Diversity erzeugt erst einmal viel Reibung, das ist manchmal anstrengend. Durch Reibung entsteht allerdings auch Energie, und genau diese Spannung ist in vielen Fällen gewollt.

Sophia Rödiger, Diversity-Expertin und Gründerin der Transformationsberatung MountainMinds

LBBW Standpunkt: Gehen wir einen Schritt zurück. Die Mitglieder des divers zusammengesetzten Teams wollen niemandem im Team auf die Füße treten. Vorbehalt Nummer 3: Wokeness-Labor statt offener Austausch.

Sophia Rödiger: Da sind die Führungskräfte gefordert. Sie müssen einen Raum schaffen, wo sich jeder so zeigen kann, wie er oder sie ist. Basis ist die psychologische Sicherheit. Das passiert nicht von selbst. Dazu braucht es interkulturelle Trainings – und stimmige Grundwerte, die im ganzen Unternehmen gelten. Wenn es diesen vertrauensvollen Raum nicht gibt und Teams einfach bunt zusammengewürfelt werden, wird es Knatsch geben. Dann sind die Führungskräfte als Mediatorinnen und Mediatoren und Brandlöscher gefordert, was unnötig aufwändig ist. Sinnvollerweise gibt es im Unternehmen bereits Strukturen wie Zielsetzungssysteme, passende „Clear the Air“-Meetingformate, die den Mitarbeitenden helfen, Spannungen oder Konflikte früh zu erkennen und gemeinsam lösungsorientiert anzugehen. Ich kann nur wiederholen: Per se ist Reibungs- und Konfliktenergie nichts Schlechtes, wenn sie gerichtet und genutzt wird. Die entscheidende Frage im Team muss sein: Kämpfen wir gemeinsam für dasselbe Ziel? So einen „Nordstern“ braucht jedes Team. Je bunter es zusammengesetzt ist, desto wichtiger ist zu beantworten: Was stiftet Kohäsion zwischen uns, welche Elemente sind verbindend und wer nimmt welche Rolle darin ein?

LBBW Standpunkt: Letzter Vorbehalt: Diversity bringt nichts, weil es keinen Unterschied macht, ob alte weiße Männer „Ja, Boss!“ murmeln oder eine bunt-diverse Truppe schweigend nickt.

Sophia Rödiger: Wenn die etablierten Unternehmensstrukturen dafür sorgen, dass nur abgenickt wird, wird das durch ein bloßes Bekenntnis zur Diversity nicht aufgebrochen – dafür sind die Strukturen zu stark. Wenn jemand aufsteht und sagt: „Ich bin hier anderer Meinung, weil…!“ und dafür jedes Mal auf den Deckel kriegt, wird diese Person sich gut überlegen, ob sie die Energie noch aufbringt oder lieber einen neuen Arbeitgeber sucht.

LBBW Standpunkt: Diversity kann also nicht nur eine Graswurzelrevolution sein?

Sophia Rödiger: Möchte ich langfristig und nachhaltig Diversität im Unternehmen verankern, dann leider nicht. Das muss auch von oben kommen. Führungskräfte haben hier eine entscheidende Vorbildfunktion und sollten das, was sie verändern wollen, als erstes bei sich verändern. Denn etablierte Strukturen aufbrechen zu wollen, ist generell eine schwierige Aufgabe. Wenn sie überhaupt gelingen kann, dann nur, wenn das von oben konsequent gefordert, gefördert und gelebt wird. So eine Graswurzelbewegung kann Menschen mobilisieren und eine gewisse Energie erzeugen – doch auf sich gestellt wird sie die Organisationsstrukturen nicht ändern. Ohne Hilfe von oben kann unten noch so viel Diversität getanzt werden – die Menschen werden doch wieder an ihren Schreibtisch zurückgehen und alles ist beim Alten. Führungskräfte müssen Verantwortung übernehmen, aber auch dafür belohnt werden und Konsequenzen erleben. Sonst bleibt Diversity auf lange Sicht ein „Nice-to-have“ von ein paar ideologisch, intrinsisch Motivierten.

Kämpfen wir gemeinsam für dasselbe Ziel? So einen „Nordstern“ braucht jedes Team.

Sophia Rödiger, Diversity-Expertin und Gründerin der Transformationsberatung MountainMinds
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LBBW Standpunkt: Warum sollte eine Unternehmensführung etablierte und bewährte Strukturen zugunsten anstrengender Diversity in Frage stellen? Braucht es dafür Krisen?

Sophia Rödiger: Solange ein System keinen Schmerz empfindet, entfällt jeder Grund, etwas zu verändern. Systeme sind dafür gemacht, stabile Zustände aufrecht zu erhalten. Es braucht also unbequeme Unsicherheiten und Krisen, damit wir uns verändern. Doch aus Krisen willst du schnell heraus – also greifst du zurück auf erlernte Muster. Von daher sind Krisen nicht immer optimal für eine gut überlegte Verhaltensänderung. Anders sieht es, eine Nummer kleiner, mit Problemen und Herausforderungen aus. Wenn wir ein Problem identifiziert haben, können wir reflektiert nach der besten Lösung suchen. Manchmal allerdings haben wir das Problem noch nicht einmal reflektiert betrachtet und rufen nach Diversity als Lösung. Häufig voreilig: Wenn Diversity die Antwort ist, wie lautete dann nochmal die Frage?

LBBW Standpunkt: Weil Diversity nicht alle Probleme lösen kann?

Sophia Rödiger: Genau. Das gilt für Diversity ebenso wie für digitale Transformation oder Künstliche Intelligenz: Da wird einfach ein modischer Begriff in die Debatte geworfen, anstatt reflektiert darüber nachzudenken, worin eigentlich das Problem besteht und wie es zielführend gelöst werden kann. Das funktioniert jedenfalls nicht, wenn sofort „Wir brauchen ChatGPT!“ oder „Wir brauchen mehr Diversität!“ gerufen wird. Und noch gefährlicher wird es, wenn wir im Rahmen dieser schwammigen Lösungsnarrative keine Zwischenmeinungen oder kritische Nachfragen mehr zulassen.

Firmen kommen hier in Deutschland nicht mehr an die Talente, die sie brauchen. Diversity ist eine Chance.

Sophia Rödiger, Diversity-Expertin und Gründerin der Transformationsberatung MountainMinds

LBBW Standpunkt: Trotzdem mal ganz naiv gefragt: Auf welche Frage ist Diversity denn die Antwort?

Sophia Rödiger: Nachfragen ist sowie das Beste! Da gibt es einige wichtige Fragen, zwei davon möchte ich herausstellen. Die derzeit wichtigste Frage für viele Unternehmen ist: Wie komme ich an Fachkräfte? Die Firmen spüren zunehmend einen Mangel an Bewerbungen und kommen einfach hier in Deutschland nicht mehr an die Talente, die sie brauchen. Diversity ist eine Chance. Wenn wir beispielsweise Frauen und internationalen Expertinnen und Experten glaubwürdig zeigen, wie sehr willkommen sie sind. Wenn wir Bewerbende ohne Studienabschluss nicht als „Bewerberin oder Bewerber zweiter Klasse“ ansehen. Wenn wir die Diversity jetzt nicht auf allen Ebenen stärken, fehlen Jahr für Jahr mehr Fachkräfte. Es wird ungemütlich für den Wirtschaftsstandort „Made in Germany“.

LBBW Standpunkt: Und die zweite Frage, auf die Diversität die Antwort ist?

Sophia Rödiger: Themenfelder wie Code, Künstliche Intelligenz und Produktentwicklung werden vor allem männlich dominiert in den westlichen Gesellschaften gestaltet. Alle anderen Sichtweisen, Daten oder physische Eigenarten finden sich dort kaum wieder. Wir schließen große Teile der Weltbevölkerung aus und das ist in meinen Augen ein großer Fehler. Wenn wir Diversity hier weiterhin verpassen, dann werden neue Technologien die Gesellschaftsklassen noch viel mehr spalten.

LBBW Standpunkt: Damit das nicht ständig aufs Neue passiert: Wie sorgen wir dafür, dass Diversity greift?

Sophia Rödiger: Das kommt nicht von heute auf morgen, dahinter steckt ein tiefgreifender Veränderungsprozess in den Unternehmen. Und der muss systematisch angegangen werden – vor allem strukturell, sukzessiv und diskursiv. Denn wer mit der Brechstange daran geht, wird nur Widerstände erzeugen und polarisieren. Diversity will keine Entweder-oder-Fronten aufbauen, sondern trotz aller Unterschiedlichkeit eine Sowohl-als-auch-Verbindung.

Sophia Rödiger ist Gründerin der Transformationsberatung MountainMinds. Die Wirtschaftspsychologin und systemische Organisationsberaterin war zuvor Managerin bei Mercedes-Benz. Sie hat das Start-up bloXmove Germany gegründet und berät als Vorständin des Bitkom-Arbeitskreises Blockchain die Politik in Blockchain-Fragen. Außerdem ist Sophia Rödiger auf C-Level im Klimatechnologie-Start-up 1KOMMA5° tätig, eines der wenigen deutschen „Unicorns“. Es bietet einen One-Stop-Shop für klimaneutrales Leben und Wohnen rund um Solar, Wärmepumpen und Elektromobilität.