Ist Künstliche Intelligenz frauenfeindlich?

KI revolutioniert die Arbeitswelt. Larissa Ginzinger vom LBBW Research erklärt, warum die Technologiebranche weiblicher werden muss – und wie das gelingen kann.

Frau mit Notebook in Produktionsanlage

Künstliche Intelligenz gilt als Technologie der Zukunft. Sie warnen: Frauen könnten zurückbleiben, je weiter die technologische Entwicklung voranschreitet – falls jetzt nicht die richtigen Weichen gestellt werden. Wie kommen Sie darauf?

Larissa Ginzinger: Leider sind Frauen im Bereich KI, also Künstliche Intelligenz, wie überhaupt in allen MINT-Berufen immer noch unterrepräsentiert. So lassen neue Technologien zwar neue Jobs entstehen, aber eher in Bereichen, an die sich Frauen bisher nicht so recht herantrauen. Zu den Top 10 der wachsenden Berufsfelder in den entwickelten Volkswirtschaften gehören etwa Datenanalyse, KI und Machine-Learning sowie Big Data. Das sind bislang alles männerdominierte Berufe. Außerdem besteht die Gefahr, dass vor allem Frauen in Schwellenländern im Zuge der Automatisierung ins Hintertreffen geraten. In diesen Ländern ist die Textilindustrie sehr stark vertreten, in den Fabriken arbeiten viele Frauen. Inzwischen können Roboter jedoch etwas, was sie lange nicht konnten: nähen. Das bedroht die Jobs der Fabrikarbeiterinnen.

Larissa Ginzinger von LBBW Research

Neue Technologien lassen zwar neue Jobs entstehen, aber eher in Bereichen, an die sich Frauen bisher nicht so recht herantrauen.

Larissa Ginzinger, LBBW Research

Ist Künstliche Intelligenz also frauenfeindlich?

Ginzinger: (lacht) Natürlich nicht. Aber sie ist durchaus ein potenzielles Einfallstor für die Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen. Darauf wollen wir vom LBBW Research mit unserer Studie aufmerksam machen: damit wir rechtzeitig reagieren und gegensteuern können.

Was droht denn sonst?

Ginzinger: Sprachassistenten sind ein Beispiel dafür, was passieren kann, wenn bestimmte Gesellschaftsgruppen – speziell Frauen – nicht an der Entwicklung neuer Technologien beteiligt sind. Bis vor Kurzem hat zum Beispiel der Apple-Sprachassistent Siri auf eine sexistische Beschimpfung mit dem Satz „Wenn ich könnte, würde ich erröten“ reagiert. Cortana, Alexa oder Google Assistant reagierten ähnlich freundlich auf frauenfeindliche Äußerungen – auch wenn die Programmierer inzwischen teilweise nachjustiert haben. Technologien, die von männlich dominierten Teams und Unternehmen entwickelt wurden, können also geschlechtsspezifische Vorurteile widerspiegeln. Auch eine unvollständige Datengrundlage kann zu einem Bias führen. Wenn etwa Personaler mit Algorithmen arbeiten und sich nur Daten von Männern im Datenpool befinden, weil im Unternehmen oder in der Abteilung bislang nur Männer arbeiten, werden Bewerbungen von Frauen schnell aussortiert.

Gibt es überhaupt noch klassische Männer- und Frauenjobs?

Ginzinger: Ja. Es gibt auf dem Arbeitsmarkt nach wie vor ein starkes Clustering, also eine Aufteilung in „Frauenberufe“ und „Männerberufe“. In den USA lag der Anteil männlicher Pflegekräfte im Jahr 2018 bei gerade einmal zwölf Prozent. Dagegen sind nur 25 Prozent der Arbeitnehmer in der Informatik-Branche weiblich. Das Phänomen lässt sich aber nicht nur in den USA beobachten, sondern weltweit. Zwar gibt es inzwischen eine höhere Durchlässigkeit als vor ein paar Jahrzehnten. Und prinzipiell kann heute fast jeder jeden Job machen, unabhängig vom Geschlecht. Ein tiefgreifender Wandel zu „Unisex-Berufen“ hat aber noch nicht stattgefunden.

Im Zuge der Digitalisierung ersetzen Roboter zunächst vor allem sogenannte Männerjobs, hat das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) herausgefunden. Wie passt das zu den Erkenntnissen Ihrer Studie?

Ginzinger: Das Risiko des Stellenverlusts durch die Welle der technologischen Innovationen der Industrie 4.0 ist schwierig zu schätzen, da hier zumeist die technische Möglichkeit der Automatisierung analysiert wird. Ob dies dann auch in der Praxis geschieht, hängt von vielerlei weiteren Variablen ab, wie zum Beispiel den relativen Lohnkosten. Es herrscht jedoch sowohl in der Wissenschaft als auch in der Praxis ein Konsens darüber, dass geringqualifizierte Tätigkeiten, die sich durch ein hohes Maß an Routine und eine niedrige Produktivität auszeichnen, nach und nach von Robotern und Methoden der KI übernommen werden.

Besorgniserregend ist, dass durch die Digitalisierung zwar neue, gut bezahlte Stellen entstehen, diese aber vor allem in männlich dominierten Bereichen geschaffen werden.

Larissa Ginzinger, LBBW Research

Aktuelle Studien gehen daher tendenziell davon aus, dass in westlichen Industrieländern in Fabriken zuerst Routinearbeiten automatisiert werden. Das sind vornehmlich Männerjobs. Nicht automatisiert werden dagegen Tätigkeiten, in denen Empathie oder Kommunikationsfähigkeiten wichtig sind, also eher weiblich besetzte Eigenschaften. In Schwellenländern scheinen dagegen vor allem Jobs von Frauen bedroht, wie schon gesagt. Je nachdem, welche Länder als Grundlage einer Studie herangezogen werden, können die Ergebnisse daher leicht variieren. Die IfW-Studie bezog sich auf die Entwicklung in den G20-Staaten, während wir uns in unserer Studie mit der weltweiten Entwicklung befasst haben. Bei einer weltweiten Betrachtung, kommen mehrere Studien zu dem Schluss, dass der Wegfall von Stellen im Zuge der Digitalisierung Männer und Frauen gleichermaßen betrifft.

Im Zuge der Digitalisierung entstehen auch neuartige Jobs, die es bislang so noch nicht gab. Profitieren Männer und Frauen davon gleichermaßen?

Ginzinger: Besorgniserregend ist, dass durch die Digitalisierung zwar neue, gut bezahlte Stellen entstehen, diese aber vor allem in männlich dominierten Bereichen geschaffen werden. Nur 16 Prozent der neu geschaffenen Arbeitsplätze sind eher weiblich geprägten Berufsfeldern zuzuordnen. Diese Jobs sind zudem meist schlechter bezahlt als Arbeitsplätze in der Technologiebranche. Auch in der Start-up-Landschaft sind Frauen eine Rarität. Diese Jungunternehmen spielen im Bereich KI und Innovation eine wichtige Rolle. Aber nur 28 Prozent aller Start-ups weltweit haben mindestens eine Frau im Gründungsteam. Bei allen anderen ist die Führung Männersache. Auch die IfW-Studie kommt daher zu dem Schluss, dass Geschlechterungleichheiten durch die Digitalisierung noch weiter zunehmen könnten, wenn jetzt nicht die richtigen Weichen gestellt werden.

Anteil von Frauen an der Belegschaft in der Tech-Branche

Wie können Frauen den Wechsel oder den Einstieg in den KI-Bereich schaffen?

Ginzinger: Mädchen interessieren sich im Alter zwischen 11 und 15 Jahren sehr für Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, also die sogenannten MINT-Fächer. Danach nimmt das Interesse deutlich ab. Es scheint also ein Zeitfenster von vier Jahren zu geben, in dem junge Frauen sich besonders für MINT begeistern lassen. Hier gilt es anzusetzen, frühzeitig das Interesse für MINT-Fächer zu wecken und zu fördern. Studien zeigen, dass Vorbilder wichtig sind. Außerdem ist es wichtig, Stereotypen frühzeitig zu überwinden – damit kein Mädchen denkt, dass nur Jungen erfolgreiche Mathematiker oder Informatiker sein können. Kurz gesagt: Frauenförderung im MINT-Bereich muss schon in der Schule beginnen.

Was ist mit Frauen, die nicht mehr zur Schule gehen?

Ginzinger: Bereits ausgebildete und berufstätige Frauen haben es etwas schwerer, den Wechsel zu schaffen – je nachdem, was sie einmal gelernt oder studiert haben. Aber auch sie können sich weiterentwickeln, fortbilden und gegebenenfalls sogar in ein anderes Berufsfeld wechseln. Wichtig ist, dass ihnen hierzu auch die Möglichkeit geboten und die Zeit eingeräumt wird. Etwa indem sie eine Kinderbetreuung im Unternehmen in Anspruch nehmen.

Das mag in Industriestaaten funktionieren. Wie sieht es in Schwellenländern aus?

Ginzinger: In den sogenannten Emerging Markets ist die Lage etwas schwieriger. Dort droht eine verfrühte Deindustrialisierung, wenn immer mehr Roboter und automatisierte Prozesse in Fabriken zum Einsatz kommen. Sollte das passieren, würde es insbesondere Frauen treffen. Männer sind in Schwellenländern oft besser ausgebildet als Frauen, Arbeiterinnen besetzen meist gering qualifizierte Stellen und üben Routinetätigkeiten aus. Sie sind also schlecht auf die Veränderungen des Arbeitsmarktes vorbereitet. Zudem gibt es in Schwellen- und Entwicklungsländern kaum Programme, um Frauen für die Berufe der Zukunft zu qualifizieren.

Müssen sich Frauen in Nicht-Industriestaaten also damit abfinden, dass Nähroboter sie ersetzen?

Ginzinger: Nein. In einkommensschwachen Ländern auf dem afrikanischen Kontinent oder auch in Indien sind heute schon viele Menschen in der sogenannten Gig Economy tätig. Als Freelancer führen sie quasi auf Zuruf kleine Aufträge aus – Gigs. Sie fahren Essen aus, waschen Wäsche oder lösen kleinere IT-Aufgaben. Hinzu kommt, dass gering qualifizierte Arbeitnehmer verstärkt für die Pflege von Daten für die KI-Systeme der Unternehmen der Industrieländer eingesetzt werden. Hier gibt es auch Chancen, in der digitalen Wertschöpfungskette Fuß zu fassen. In Deutschland hat die Gig Economy keinen guten Ruf, weil die Arbeiter meist nicht versichert sind und kein sicheres Einkommen haben. In Schwellen- und Entwicklungsländern sind sie dennoch eine echte Chance. Gerade für Frauen.

Welche weiterführenden Schlüsse lassen sich aus den Studienergebnissen ziehen?

Ginzinger: Viele Unternehmen haben sich inzwischen Frauenförderung und Gleichberechtigung auf die Fahne geschrieben. Es ist wichtig, dass diese Themen aber auch gelebt werden, ganz besonders in der Technologiebranche. Politik, Unternehmen und Frauen selbst sind nun gleichermaßen gefragt, um der Benachteiligung von Frauen im Zuge der Digitalisierung entgegenzuwirken. Die künftige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat bereits angekündigt, eine Gesetzesinitiative für einen „koordinierten Ansatz für die menschlichen und ethischen Auswirkungen der künstlichen Intelligenz“ anzustoßen. Das geht in die richtige Richtung. Klar ist: Frauen müssen die Zukunft mitgestalten. Sonst sind 50 Prozent der Bevölkerung irgendwann abgehängt.

Erfahren Sie mehr über die über die LBBW Research Studie: