Videostill aus Body in Progress von Anna Witt
Anna Witt: Körper in Arbeit / Body in Progress, 2018, Videostill, Detail. ©Anna Witt, Courtesy die Künstlerin und Galerie Tanja Wagner, Berlin

Werke in der Sammlung

Die Entwicklung von Happening und Performance geht in den 1960er Jahren mit der revolutionären Erfindung der Videotechnik einher, die eine nahezu simultane Aufnahme und Wiedergabe von Bildern ermöglicht und damit eine bisher unbekannte, mediale Echtzeiterfahrung liefert. Zielen die neuen aktionsorientierten Kunstformen darauf ab, die künstlerische Praxis in den öffentlichen Raum und seine Institutionen auszudehnen, um dort kultur- und gesellschaftskritisch zu wirken, erlaubt die Videotechnik ebenso die Erweiterung des künstlerischen Handlungsrahmens: Es entstehen neue Bildwelten, die sich einerseits auf die technologischen Eigenschaften des Mediums selbst beziehen und anderseits das Künstlersubjekt als Protagonisten medialer Selbsterforschung und Selbsterfahrung artikulieren. Beides, performative Kunst und neue Technologie, stellen im weiteren Verlauf der künstlerischen Themensetzungen dar, dass die Definition von Selbst, Identität und Subjekt immer im Kontext einer sozialen Konstruktion zu verstehen ist, die außerdem geschlechterspezifische Zuschreibungen bedingen. Künstlerinnen und Künstler wie Valie Export, Eleanor Antin, Bruce Nauman, Chris Burden, Ulrike Rosenbach und Joan Jonas sind mit ihren Werken in den 1960er und 19070er auf dem Feld der Videokunst hierfür wegweisend. Das Subjekt Mensch erfährt in der Kunst damit zahlreichen Ausdeutungen und verschiebt somit den Blick weg vom Subjekt und hin zu den Formen der Subjektivierung des Menschen. Entwicklungsschritte dieser Subjektivierung erhalten zudem, etwa durch die Forschungen des Soziologen und Historikers Richard Sennett, einen pointierten Namen. Er beschreibt er in seinem Buch „Der flexible Mensch“ (1998) die Konsequenzen der postmodernen Arbeitswelt in neoliberalen Gesellschaften: Diese sind für den Einzelnen von Flexibilität, Leistungsbereitschaft, Selbstoptimierung, Kreativität und Wettbewerb gekennzeichnet. In der Summe bestimmen diese Anforderungen an das Subjekt wiederum Identitäts- und Erkenntnisprozesse, die die Eigenbeschreibung für das Verhältnis zur Umwelt, hier am Beispiel der Arbeitswelt, notwendig machen.

Anna Witts künstlerisches Verfahren verschränkt die strukturellen Verlaufsformen der Performance mit den funktionalen Merkmalen des filmischen Erzählens, die ihr das Medium Video konkret an die Hand geben. Witt setzt das Medium als Werkzeug so ein, dass ihre Filme sowohl eine hohe Unmittelbarkeit als auch eine große Neutralität vermitteln. Die Aufmerksamkeit richtet sich damit stets auf die Handlung selbst, die sich nicht im Rollenspiel des inszenierten Dramas zuträgt, sondern sich direkt aus Subjetbeziehungen und -handlungen innerhalb eines thematisch skizzierten Rahmens ereignen. Dies trifft auch dann noch zu, wenn – wie für die Fünf-Kanal-Videoinstallation „Körper in Arbeit / Body in Progress“ (2018) – Filmsequenzen parallel auf fünf Monitoren zu sehen sind, die sowohl Nah- als auch Fernsicht auf „Körper in Arbeit“, in ihrer Umwelt oder in Detailaufnahmen zeigen.

Anna Witt Körper in Arbeit 2018 Installationsansicht
Anna Witt: Körper in Arbeit / Body in Progress, 2018, Installationsansicht, Detail. ©Courtesy die Künstlerin und Galerie Tanja Wagner, Berlin.
Anna Witt Körper in Arbeit 2018 Videostill
Anna Witt: Körper in Arbeit / Body in Progress, 2018, Videostill, Detail. ©Courtesy die Künstlerin und Galerie Tanja Wagner, Berlin.
Anna Witt Körper in Arbeit 2018 Videostill
Anna Witt: Körper in Arbeit / Body in Progress, 2018, Videostill, Detail. ©Courtesy die Künstlerin und Galerie Tanja Wagner, Berlin.
Anna Witt Körper in Arbeit 2018 Videostill
Anna Witt: Körper in Arbeit / Body in Progress, 2018, Videostill, Detail. ©Courtesy die Künstlerin und Galerie Tanja Wagner, Berlin.

Die Videoarbeit ist in und um den „Erste Campus“ in Wien entstanden; in einem Stadtentwicklungsgebiet rund um den neuen Hauptbahnhof, wo auch die österreichische Bank „Die Erste“ 2016 ihre neue Unternehmenszentrale bezogen hat. Damit gibt der Ort einen ersten Handlungsrahmen vor, an dem vielfältige Arbeitsformen und -aufgaben nebeneinander ablaufen. Menschen arbeiten dort auf Baustellen, in Hotels und Büros, wobei die Arbeitsplätze im „Erste Campus“ der Bank überwiegend in Großraumbüros nach der „Clean Desk Policy“ organisiert sind: Statt fester Arbeitsplätze gibt es wahlweise möblierte Arbeitsbereiche, die je nach Aufgabe genutzt werden. Die einzige Konstante des so flexibel eingerichteten Arbeitsumfelds ist für den nun nomadisierenden Arbeitnehmer ein eigener, abschließbarer Container für die notwendigen Geräte und Unterlagen. Damit beeinflusst ein Credo des „New Work“-Konzepts, das der Agilität, nicht nur den Projektverlauf in Teams, sondern schreibt sich physisch in die Welt der Arbeitenden ein. Derart agil gestaltete Arbeitsplätze kontrastiert Anna Witt mit für die Videoproduktion eingeladenen Athletinnen und Athleten einer Calisthenics-Gruppe. Sie führen im Gebäude von der „Die Erste“ ihr Eigengewichtstraining genauso durch, wie auf den umgebenden Baustellen oder in Hotelfluren. Neue Arbeitsmodelle, wie sie sich dem flexiblen, agilen Arbeitssubjekt darstellen, finden letztlich ihre Entsprechung im Bild der Fitness, die längst nicht mehr zur Freizeit gehört, sondern Teil eines Lifestylekonzepts geworden ist, das sich Selbstoptimierung zum Ziel gesetzt hat. Textsequenzen, die aus den von Witt geführten Gesprächen mit den Sportlerinnen und Sportlern, Arbeitenden, Angestellten und einem Talent Recruiter entnommen sind, ergänzen die Videobilder mit Aussagen zum je individuellen Selbstverständnis, den Fragen, Zweifeln und Zielen.

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YouTube Consent

Die Videoarbeit „60 Minutes Smiling“ (2014) ist ebenso in der Arbeitswelt lokalisiert. Das Video zeigt eine Gruppe von Frauen und Männern, deren unaufdringliche, auf Seriosität hin angelegte Bekleidung auf Angestellte aus dem Dienstleistungssektor schließen lässt. Die Positionierung und Haltung der Personen sind ferner so austariert, dass der Eindruck entsteht, es handele sich bei diesem Zusammentreffen um den Termin für ein offizielles Teamporträt, das für eine Unternehmensbroschüre oder ähnliches angefertigt wird. Das dazu immer erforderliche, freundliche und sympathische Lächeln ist dafür unerlässlich. Der Handlungsrahmen der Arbeit, den Anna Witt den eingeladenen Performern vorgegeben hat, bestimmt es nun, das Lächeln als positives Signal der nonverbalen Kommunikation für die Dauer von 60 Minuten durchzuhalten. Witt spielt damit die Echtzeittechnik des Videos gegen die lebendige Bewegtheit von Emotionen aus, so dass sich das Lächeln zunehmend als Kraft- und Kontrollaufwand darstellt, da ein ursprünglich natürliches Ausdrucksmoment um eine unnatürliche Dauer verlängert wird. Es bildet sich hier eine Mathematik der Gefühle ab, die für die Arbeitswelt insgesamt kennzeichnend ist, um den Erfordernissen der serviceorientierten Kundenfreundlichkeit gerecht zu werden. Die strategischen Gesetze der Arbeitswelt verfügen längst über die Gefühlswelt des Subjekts und richten es, als Humankapital, im Kontext der Arbeitswelt für Unternehmensziele aus. Die gekürzte Videofassung von "Sixty Minutes Smiling", 2014, gibt einen Einblick in dieses Werk. (© Anna Witt, Courtesy die Künstlerin und Galerie Tanja Wagner, Berlin).

Vita

Anna Witt (*1981): Geboren in Wasserburg am Inn, 2002 bis 2008 Studium an der Akademie der Bildenden Künste Wien bei Monica Bonvicini und an der Akademie der Bildenden Künste München bei Magdalena Jetelová und Asta Gröting. 2003 entsteht während des Studiums ein erstes Video „Die Geburt“, in welchem Witt ihre Geburt zusammen mit ihrer Mutter in neun Minuten reinszeniert. 2005 Vollstipendium von der Studienstiftung des deutschen Volkes. Witt beginnt, im öffentlichen Raum mit Passanten zu arbeiten, es entstehen die Videos „Kontakte“ (2005) und „Push“ (2006). 2006 Ausstellungbeteiligung „Traurig sicher, im Training“ Grazer Kunstverein, Steirischer Herbst, Graz. 2008 Teilnahme an der Manifesta 7, Trentino, Südtirol. 2010 Staatsstipendium für Video- und Medienkunst Österreich, erste institutionelle Einzelausstellung in der Lothringer 13, Städtische Kunsthalle München und Teilnahme an der 6. Berlin Biennale. 2012 Arbeitsstipendium, TICA-Tirana Institute of Contemporary Art, Albanien; Bayerischer Staatsförderpreis, Sektion Performance. Zwischen 2008 und 2012 entstehen Videoarbeiten zu den Themen Migration, Selbst- und Fremdbeobachtung, Formen des Re-Enactments und der Selbstermächtigung. 2014 Arbeitsstipendien in Chisinau, Moldau, Goethe Institut Sofia, Bulgarien, Stacion, Center for Contemporary Art, Pristina, Kosovo. 2015 Arbeitsstipendium Atelier Tokyo, BKA Austria. 2015–2016 einjähriges Projekt in Zusammenarbeit mit Ahsraf Jabal und Alexa Dreesmann über deren Fluchterfahrung aus Syrien und der DDR. Die daraus resultierende Multimedia-Installation „Walking through Walls“ wird 2015 in der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig präsentiert. 2016 Einzelausstellung in der Kunsthalle St. Gallen. 2018 Einzelausstellung „Human Flag”, Belvedere 21, Wien; Msgr. Otto Mauer-Preis für Bildende Kunst. 2019 Nanji Residency, Stipendium Seoul Museum of Art. 2020 Österreichischer Bundespreis „Outstanding Artist Award“, Sektion Video- und Medienkunst.