Thomas Locher

Ausstellungansicht Extended Thomas Locher Werke im ZKM Karlsruhe
Werke von Thomas Locher in der Ausstellung "Extended. Sammlung LBBW" im ZKM Karlsruhe, 2009. Foto: Volker Naumann

Werke in der Sammlung

Schrift- und Bildzeichen sind als visuelle Bedeutungsträger seit der Antike bekannt. Als intermedial funktionierende Elemente auf Objekten, in Handschriften oder auf Tafelbildern formen sie einen einheitlichen Sinnzusammenhang, der sich bis heute, beispielsweise in der Erzählform des Comics, aber auch in den bebilderten Anleitungen zur Nutzung von Geräten wiederfindet. Auch die Konzeptkunst, wie sie sich im Werk Thomas Lochers darstellt, gründet auf Schrift und Sprache und ihrer Verschränkung mit visuellen Gestaltungsmitteln. Jedoch knüpft die Konzeptkunst an die Erkenntnisse der sprachkritischen Wende an, den „linguistic turn“, der bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Philosophie sowie den Sprach- und Literaturwissenschaften anhebt und die Präzision und Wahrhaftigkeit der Sprache in ihrer Fähigkeit zur Kommunikation von Wirklichkeit kritisch zu hinterfragen beginnt. Insbesondere die Untersuchungen des österreichischen Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein, speziell seine „Theorie der Sprachspiele“, erfassen die Sprache nicht als ein statisches System. Wittgenstein sieht vielmehr in einer immer lebensweltlichen Praxis aufgehoben: Damit zeigt er den Wandel und die Grenzen des Sprachgebrauchs sowie der Grammatik und der auf Sprache basierenden Erkenntnisfähigkeit auf, was in der Folge auch Nachwirkungen in der Bildenden Kunst seit den 1960er Jahren hat. Die Modalitäten der künstlerischen Darstellung sind dabei zahlreich: Als beschreibende Notiz, Brief oder fotografisches Dokument zielen sie darauf ab, das gedanklich-begrifflich verfasste Konzept, welches das Kunstwerk in seiner Form begründet, vorrangig gegenüber seiner materiellen und morphologischen Dimension zu behandeln. Außerdem gelangt der für die Kunstbetrachtung institutionalisierte Rahmen (Ausstellung, Museum, Galerie etc.), demnach der Kontext, in dem Kunst gezeigt wird, als Legitimationsinstanz von Kunst in den Fokus und erweitert die Fragestellung der künstlerischen Werkdefinition um normative und qualitative Aspekte. Mit diesen Prämissen zur Funktionsweise, Gestalt, Rezeption und Interpretation von Kunst ist der Werkbegriff der Kunst insgesamt neu ausgerichtet und stellt für die Generation von Künstlerinnen und Künstlern, der Thomas Locher angehört, einen Diskursrahmen für die eigene künstlerische Arbeit dar.

Thomas Locher 1-32C 1985
Thomas Locher: 1-32C, 1985. ©VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto: Archiv Sammlung LBBW

Die erste Werkgruppe von Thomas Locher mit dem Titel „Lexikonarbeiten“, bezieht sich auf die Logik einer strukturellen Ordnung, wie sie allgemein von Bausatzplänen bekannt ist. Die Arbeit „1–32 C“ (1985) ist für diese Werkgruppe prototypisch. Das Foto mit Metallrahmen zeigt einzelne, teilweise nach formaler Ähnlichkeit gruppierte Werkteile, wobei jedem Teil eine Ziffer zugeordnet ist. Es ist ad hoc nicht erschließbar, welche Maschine aus der Summe der Teile nach welchem Vorgehen zu bauen sein könnte, denn es fehlt dazu die ansonsten gebräuchliche Legende. Es gibt zum Bausatz keinen Satzbau, obgleich die Paarungen von Ziffern und Bauteilen genau dies suggerieren. Damit zerbricht die Schlüssigkeit dieser aus dem Muster des Alltags bekannten Logik und führt sie gleichsam als geordneten Nonsens innerhalb der Logik des Bildes vor. Diesen dysfunktionalen „Lexikonarbeiten“ folgt die intensive Beschäftigung Thomas Lochers mit der Grammatik der Sprache, den Regeln ihres Aufbaus, ihrer Formen und deren Funktionen im Satz. Dazu entstehen teils raumgreifende Werke, die in ihrer kubischen, offen gehaltenen und begehbaren Konstruktion das eindimensionale statische Verständnis von grammatischen Systemen auflöst, indem mehrdimensionale Perspektiven auf die sprachliche Ordnung der Grammatik eröffnet werden. Mit diesen grammatischen Erfahrungsräumen gelangt eine weitere Dimension in die künstlerische Arbeit, nämlich die der Öffentlichkeit der Sprache und ihrer Ermöglichung sozialer Systeme.

1992 zeigt Thomas Locher in seiner Ausstellung im Kölnischen Kunstverein mit dem Titel „Wer sagt was und warum“ eine Reihe von Interieurs aus beschriftetem Metallmobiliar. Das siebenteilige Ensemble „Marking and Labelling“ (1991) aus der Sammlung LBBW ist ein Vorläuferwerk dieser Ausstellung. Die insgesamt sieben Möbelobjekte sind mit kursiv gesetzten Lettern überzogen und bringen buchstäblich Fragen mit sich – zu lesen ist etwa „can you understand“, „what is intended“, „what do they want“ und „what can I believe“. Dabei kommt es durch die hochglänzende Oberfläche der Objekte zu partieller Unleserlichkeit und Ausblendung der Schrift. Je nach Standpunkt sehen sich die Betrachter wiederum auf den Oberflächen gespiegelt. Das Werk visualisiert im funktionalen Zusammenhang von Raum – Objekt – Schrift – Frage – Betrachter – Raum ein Netz der Bezugnahmen, die die Möglichkeit zu einem Dialog unterstellen, der aber nicht als ein solcher ausgeführt werden kann. Es kann beispielsweise kein Sprecherwechsel stattfinden, der zu einer Sprechhandlungssequenz führen würde. Das mit Fragen überzogene Ding spricht und spricht doch nicht.

Thomas Locher Marking and Labelling 1991
Thomas Locher: Marking and Labelling, 1991. ©VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto: Archiv Sammlung LBBW

Den französischen Poststrukturalisten, an erster Stelle Michel Foucault, sowie dem Philosophen Jürgen Habermas verdankt sich die Etablierung des Begriffs „Diskurs“ – als geführte, erörternde, zwischen Teilnehmern hin und her verlaufende Rede – für ihre Forschung über das Verbreiten von Wissen, über gesellschaftlich legitimierte Normen sowie die Entwicklung und Durchsetzung von Machtverhältnissen in gesellschaftlich institutionalisierten Zusammenhängen. Diskursiv ist das Werk „Marking and Labelling“ daher auch zu verstehen, denn es macht eine Ordnung deutlich, die sich durch eine repräsentative Setzung der Fragen und Dinge zueinander darstellt, ohne deren Regeln für einen weiteren Umgang kenntlich zu machen. Die Problematik, die sich modellhaft daraus ergibt, ist die der Intransparenz, damit verbunden die Möglichkeit der Täuschung, der Manipulation, die bis zu Diskriminierung und Rechtswidrigkeit führen kann. Das so in die künstlerische Arbeit eingeführte Denkmodell „Diskurs“ setzt sich im Werk Lochers mit der Auseinandersetzung sozialer Beziehungen fort, die ökonomische, dann ebenso legislative Kommunikations- und Ordnungssysteme verhandelt.

Das Werk „Geben und Nehmen“ (1994–1997) an der großen Glasfassade der LBBW-Unternehmenszentrale in Stuttgart besteht aus Sätzen des alltäglichen Sprachgebrauchs, die „Geben“ und „Nehmen“ betreffen und damit Tauschhandlungen mittels der Abfolge von Sprechakten abbilden. Neben dem „Geben“ in der Bedeutung des „Teilens“ („Ich gebe Dir etwas ab“) lassen weitere Aussagesätze auf Motivationen schließen, die auf einen Ausgleich abzielen („Wenn Du mir gibst, was ich haben möchte, kann ich Dir geben, was Du willst“), Ausschließlichkeit behaupten („Ich gebe es nur Dir“) oder eine appellative Forderung sind („Gib her“). Durch die Platzierung in der oberen Hälfte der Fassade und seiner Lesbarkeit von Innen richtet sich „Geben und Nehmen“ unmittelbar an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bank, die wiederum im Nachvollzug der Arbeit auf den Außenraum blicken. Damit vermittelt sich das Fassadenwerk als Übergangszone, zwischen Arbeit und privater Welt, der architektonischen Binnenstruktur des Gebäudes und dem Stadtraum sowie individueller und systemischer Verfasstheit.

Thomas Locher Geben und Nehmen 1994-1997 Detail
Thomas Locher: Geben und Nehmen (Gläubiger und Schuldner), 1994-1997. ©VG Bild-Kunst, Bonn 2021, Foto: Archiv Sammlung LBBW

Vita

Thomas Locher (*1956): Geboren in Munderkingen/Donau. 1977 bis 1979 Zivildienst. 1979 bis 1985 Studium der Kunsterziehung und Kunstgeschichte an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste bei Paul-Uwe Dreyer, Sotos Michou, Peter Grau und Dr. Bernd Rau. 1985 Beginn der Werkgruppe „Lexikonarbeiten“, erste Galerieausstellungen in Deutschland und Großbritannien. 1986 Umzug nach Köln. 1989 Ausstellungsbeteiligung bei „Prospect 1989“, Triennale für internationale Kunst, Frankfurt, und „Art from Cologne“, Tate Gallery, Liverpool. 1990 Teilnahme in der Sektion „Aperto“, Biennale Venedig. 1992 Beginn von Textarbeiten zur strukturellen Ordnung der Sprache. Erste institutionelle Einzelausstellungen, „Doppelzimmer“ in der Kunsthalle Bielefeld, in der De Appel Stiftung, Amsterdam, und im Kölnischen Kunstverein „Wer sagt was wann und warum“. 1993 Teilnahme an der Ausstellung „Kontext Kunst“, Steirischer Herbst ‘93, Graz. 1994 erste öffentliche Auftragsarbeit für die Glasfassade des neuen Hauptgebäudes der SüdwestLB (heute LBBW) mit dem Titel „Geben und Nehmen (Gläubiger und Schuldner)“. Es folgen weitere Arbeiten für den öffentlichen Raum, u. a. 1995 für die Messe Leipzig „Angebot und Nachfrage“, 1996 „Wunsch und Wille (Entweder/Oder)" für die Sophie Gips Höfe im Auftrag der Sammlung Hoffmann sowie 1997 „Fragen“ für die Landesbaudirektion Graz. 1995 erste Ausstellung des Werkzyklus‘ zum „Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“ im Kunstverein München. 1997 mit Peter Zimmermann Ausstellung „Andere Orte, Öffentliche Räume und Kunst“, Kartause Ittingen, Kunstmuseum Kanton Thurgau. 1999 Auftragsarbeit für die Glasfassade des ARD-Hauptstadtstudios, Berlin. 2000 Umzug nach Berlin. 2003 Retrospektive in der Galerie der Stadt Stuttgart „Axiome der Kommunikation: Politics of Communication; Fragmente der Notstandsgesetzgebung; Knoten und Linien; Human Rights“. Ausstellungprojekt „Politik der Kommunikation“ mit dem Museum in Progress und der Arbeiterkammer Wien. 2008 bis 2016 Professur an der Königlich Dänischen Kunstakademie, Kopenhagen. 2010 Beteiligung an der 6. Berlin Biennale. 2013 Einzelausstellung „Homo Oeconomicus“ in der Secession Wien, Umsetzung „Nicht-Ort (Non-Site)“, Denkmal an der ehemaligen Gestapo-Hinrichtungsstätte, Innenhof El-De-Haus, Köln. 2015 Einzelausstellung „Doors“, KMD Kunsthalle Marcel Duchamp, The Forestay Museum of Art, Cully, Teilnahme an der „5. Thessaloniki Biennale of Contemporary Art“. Seit 2017 Rektor der Hochschule für Grafik und Buchkunst, Leipzig.