Andreas Gursky

Andreas Gursky Chicago Board of Tade 1997
Andreas Gursky: Chicago Board of Trade I, 1997, Detail. ©Andreas Gursky, VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Werke in der Sammlung

Der Mensch im Porträt ist im Werk von Andreas Gursky, seit Beginn seiner Karriere bis heute, so gut wie nicht vorhanden. Stattdessen ist er zuweilen vereinzelt, als singuläres Bildzeichen, inmitten einer überwältigenden Naturlandschaft zu entdecken. Auch bei anderen Motiven begegnet man dem Menschen in seiner je individuellen Besonderheit ebenso wenig, sondern sieht ihn bloß in kleiner, mittlerer oder größerer Häufung: als Passantenpaar in einer Vorstadt, im Nirgendwo unter einer Autobahnbrücke oder konkret aber winzig jeweils hinter unzähligen Fenstern eines gewaltigen Wohnblocks, in der akkumulierten Masse auf Konzerten, als Mikroteil eines Gewimmels an Orten des Handels oder auch locker gestreut an den Schauplätzen der Freizeit. Aber selbst wenn der Mensch in den Bildräumen Gurskys gar nicht vorhanden ist, ist er dennoch immer mittelbar präsent. Damit bestimmt sich eine elementare Dimension in Gurskys Schaffen, die Welt als ‚gemachten‘ Lebensraum, zwischen den Polen Natur und Zivilisation zu verankern. Aspekte des sachlich dokumentarischen aber auch des strukturell typologischen Arbeitens seiner Lehrer Michael Schmidt und Bernd Becher sind darin verschränkt: Michael Schmidt gehört im West-Berlin zu Anfang der 1980er Jahre, zu der Zeit, als Andreas Gursky bei ihm an der Folkwang-Schule studiert, zu den wenigen Fotografen, die das Bild der Stadt in ihrer urbanen Beschaffenheit vorstellt – mit den Baulücken, Hinterhöfen, Brandmauern und Ziegelsteinwänden, schwarz-weiß, zwischen trist und skulptural, im Ganzen immer sachlich. Mit Bernd Becher an der Akademie in Düsseldorf vermittelt sich anhand der Motivwelt Architektur hingegen eine typologisch ausgerichtete Bildauffassung, die vorrangig Industriegebäude und Produktionsanlagen (Fördertürme, Hochöfen, Silos), ebenso in schwarz-weiß, strukturell-analytisch und oftmals in serieller Reihung wiedergibt.

Im Gegensatz zu seinen Lehrern nutzt Andreas Gursky bereits früh die Farbfotografie, um sie in seinem Bildschaffen strategisch, zufolge der scheinbaren Wirklichkeitstreue der Fotografie, einzusetzen. Mit der Verwendung der Großformatkamera mit planer Filmebene, die für das Bildergebnis eine hohe Schärfentiefe ohne stürzende Linien in großer Detailgenauigkeit erlaubt, begrenzt oder verstärkt Gursky stets den emotionalen Affekt, den das Farbfoto immer mit sich führt und darin der Malerei verwandt ist. Über die Affekte, welche Bilder in Betrachtern auslösen können und auch sollen, ist über die Jahrhunderte in der Kunsttheorie vielfältig geschrieben worden und diese hinterfängt als Reservoir der Möglichkeiten ebenso Andreas Gurskys Werk. Insbesondere die ab dem 18. Jahrhundert erschienenen und einflussreichen Abhandlungen von Literaten, Theoretikern und Künstlern, unter anderem die empirisch-sensualistische Ästhetik Edmund Burkes, bereichern mit Begrifflichkeiten zu „erhabenen“, „schönen“ oder „pittoresken“ Bildwirkungen mögliche Strategien zur Komposition von Bildern und ihrer gezielten Wirkung auf ihre Betrachter.

Andreas Gursky Schwimmbad Ratingen 1987
Andreas Gursky: Ratingen, Schwimmbad, 1987. ©Andreas Gursky/Courtesy Sprüth Magers/VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Im axial ausgerichteten Raster der Bildkomposition von „Ratingen, Schwimmbad“ (1987) verteilen sich in um einen Pool etliche Besucher unter einem lichtgrauen Himmel. Die Aufnahme aus Obersicht macht deutlich, wie das polygonal angelegte Becken in das typische Landschaftsbild eines englischen Parks eingeschnitten ist, um nach erlebnisästhetischen Vorstellungen eine Oase der Erholung zu schaffen. Durch die gewonnene Fernsicht beleben zudem die Badenden die gesamte Szenerie wie malerische aufgetupfte Farbkleckse und vermitteln dem Auge das angenehm pittoreske Gesamtbild eines soweit friedlichen Nachmittages. Indessen bewirkt die extreme Detailschärfe der Aufnahme eine materiell sezierende Analyse der Situation, wie sie mit bloßem Auge nicht möglich wäre. Das gleichzeitig Mikro- und Makroperspektive liefernde Bild stellt damit eine eigentümliche Bezugnahme zur Welt her, da sie nicht mehr lebenswirklich, sondern rein technologisch bedingt ist.

Das technologisch motivierte ‚Unbehagen‘ führt Andreas Gursky auch in seinen Naturaufnahmen, wie dem Werk „Aletschgletscher“ aus dem Jahr 1993, vor. Der flächenmäßig größte Gletscher der Alpen erscheint mehr als beindruckend, in dramatischem Wetter und Lichtwirkung, mit hellen Partien in der Bildmitte, die sich zum Himmel hin auflösen und von den seitlichen, dunkleren Hängen gerahmt werden. Hier greift Gursky auf Merkmale der sinnlich-erhabenen Bildwirkung zurück, denn der Gletscher tritt dem Betrachter als groß, gewaltig, rau und machtvoll entgegen. Doch auch hier untergräbt die hohe Detailschärfe den puren Eindruck des ästhetisch Sublimen.

Andreas Gursky Aletschgletscher 1987
Andreas Gursky: Aletschgletscher, 1993. ©Andreas Gursky/Corutesy Sprüth Magers/VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Mit den Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung präsentiert Andreas Gursky ab dem Jahr 1993 zunehmend das fotografisch komponierte Farbbild als ästhetisch verdichtete Fiktion. Eines der frühen und prominentesten Werke mit dem Titel „Montparnasse“ gibt das größte Wohngebäude von Paris vollständig, in frontaler Monumentalität, wieder und ist aus zwei Einzelaufnahmen montiert. Seitdem ist aus Betrachtersicht das Erfassen der Welt in den Bildern Gurskys nicht mehr allein das Resultat einer technisch forcierten Analyse der Realität, sondern potenziert sich zur Begegnung mit „Megazeichen“. Auch das Werk „Chicago Board of Trade I“ erzeugt mittels der digitalen Bildbearbeitung einen komprimierten Befund der menschlichen Zivilisation, als Manifestation ihrer Produktivität, ihrer Ekstase, durch ihre architektonischen Setzungen und den damit verbundenen Wirtschafts- und Gesellschaftsentwürfen. Mit dem unbedingten Willen zur Organisation, Struktur und Effizienz, der Lust am Ereignis, der Sehnsucht nach Orten des Rückzugs und der Erholung, verändert das zivilisatorische Streben die Gestalt der Welt. Im Werk Andreas Gurskys zeigt sich die zivilisatorische Kraft des Menschen auch in ihrem globalen Zusammenhang.

Andreas Gursky Chicago Board of Trade 1997
Andreas Gursky: Chicago Board of Trade I, 1997. ©Andreas Gursky/Courtesy Sprüth Magers/VG Bild-Kunst, Bonn 2021

Vita

Andreas Gursky (*1955): Geboren in Leipzig, im gleichen Jahr Flucht der Eltern aus der DDR zunächst nach Essen, dann Düsseldorf. Sein Vater Willy Gursky setzt dort seine Tätigkeit als erfolgreicher Werbefotograf mit eigenem Studio fort. 1977 bis 1980 Studium an der Folkwang Universität der Künste, Essen, u. a. bei Michael Schmidt. 1980 bis 1987 Studium an der Kunstakademie Düsseldorf, Meisterschüler von Bernd Becher. 1989 Preisträger „Wettbewerb der Landesgirokasse zur Förderung der künstlerischen Photographie in Deutschland“, erste institutionelle Einzelausstellung im Museum Haus Lange, Krefeld. 1992 Einzelausstellung mit dem Siemens-Kultur-Programm, München, Einzelausstellung in der Kunsthalle Zürich. 1994 erste Retrospektive zum Werk von 1984 bis 1993, Stiftung De Appel, Amsterdam, Le Case D’Arte, Mailand, Deichtorhallen, Hamburg. 1992 mit dem Werk „Charles de Gaulle“ setzt Gursky erstmals in seinem Œuvre die Möglichkeiten der digitalen Bildbearbeitung ein. 1995 Ausstellung „Montparnasse“, Portikus, Frankfurt am Main. Einzelausstellung in der Tate Gallery, Liverpool. 1998 Tournee-Retrospektive „Fotografien 1994 – 1998“, Serpentine Gallery, London, Scottish National Gallery of Modern Art, Edinburgh, Kunstmuseum Wolfsburg, Kunstmuseum Winterthur, Centro Cultural de Belém, Lissabon, Castello di Rivoli, Turin. Tournee-Retrospektive „Currents 27”, Milwaukee Art Museum, The Henry Art Gallery, Washington, Contemporary Arts Museum, Houston, Columbus Museum of Art. 2001 Einzelausstellung im Museum of Modern Art, New York, Folgestationen von dort ausgehend sind das Centro de Arte Reina Sofia, Madrid, Centre Georges Pompidou, Paris, MCA Chicago, SFMOMA, San Francisco. 2007 – 2008 Tournee „Retrospektive 1994 – 2007“, Haus der Kunst, München, Museum of Modern Art, Instanbul, Sharjah Contemporary Arab Museum, Ekatarina Foundation, Moskau, National Gallery of Victoria, Melbourne. 2010 bis 2018 Professur für Freie Kunst an der Kunstakademie Düsseldorf. 2012 bis 2018 internationale Einzelausstellungen u. a Louisiana Museum, Humblebaek, The National Museum of Art, Tokio, Museum Frieder Burda, Baden-Baden, Hayward Gallery, London. 2019 Ausstellung in der Villa Massimo, Rom, Gegenüberstellung mit dem Werk seines ehemaligen Lehrers Michael Schmidt. 2021 erste Einzelausstellung in seiner Geburtsstadt, Museum der bildenden Künste, Leipzig.