Bittere Kröten schlucken

LBBW-Chefvolkswirt Moritz Kraemer warnt im Interview vor einem Gas-Embargo und davor, beim Exportweltmeister Deutschland die Moral über den Umsatz zu stellen.

Chefvolkswirt Dr. Moritz Kraemer

LBBW Standpunkt: Herr Kraemer, derzeit wird viel darüber spekuliert, was ein Gas-Embargo Russlands mit der deutschen Wirtschaft machen würde. Wie tief wäre die Rezession?

Moritz Kraemer: Wir haben verschiedene Szenarien berechnet. Ein zeitnah ausgesprochenes Gas-Embargo – übrigens egal von welcher Seite – würde die deutsche Wirtschaft empfindlich treffen. Nach unserer Prognose würde im laufenden Geschäftsjahr die Wirtschaft um drei Prozent schrumpfen. Im kommenden Jahr sogar um vier Prozent. Das alles bei erheblich steigenden Preisen.

LBBW Standpunkt: Nämlich?

Kraemer: Rund neun Prozent. In manchen Monaten wäre die Preissteigerung deutlich zweistellig. Zudem würden wir massiv steigende Arbeitslosenzahlen beobachten.

LBBW Standpunkt: Und 2024 wäre dann alles ausgestanden?

Kraemer: Eher nicht. Die langfristigen Folgen eines Gas-Embargos sind aber zu unklar, als dass man sie valide beziffern könnte. Klar ist aber: Bis Flüssiggas aus Katar oder Algerien einen echten Ersatz für das russische Erdgas darstellt, dauert es noch Jahre.

Über Nacht sind wir plötzlich stark verwundbar, angreifbar und verletzlich.

Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der LBBW

LBBW Standpunkt: Der Energie-Import ist ja nur die eine Seite. Wenn man auch die Exportseite mit ins Kalkül zieht und die deutsche Wirtschaft nur noch dorthin liefert, wo westliche Normen, westliches Demokratieverständnis herrschen …

Kraemer: Ich höre auch diese Forderungen, die jetzt lauter werden. Die gab es ja schon immer. Beispiel China: Immer wieder wurde gefordert, mit dem Regime in Peking keinen Handel zu betreiben wegen der systematischen Verletzung von Menschenrechten. Dem hielt die Politik immer „Wandel durch Handel“ entgegen. Um ehrlich zu sein: Hat sich diese Hoffnung erfüllt?

LBBW Standpunkt: Auch Sanktionen haben selten zu einem Regime- oder Politikwechsel in den entsprechenden Ländern geführt. Der Iran? Nordkorea?

Kraemer: Stimmt. Man muss sich sicher die Frage stellen, ob „Wandel durch Handel“, aber eben auch „Wandel durch Nichthandel“ zu den gewünschten oder erwarteten Ergebnissen führen.

LBBW Standpunkt: Wir haben das Zeitalter erlebt, in dem der Primat der Politik galt. Das wurde nach dem Fall des Eisernen Vorhangs durch den Primat der Ökonomie ersetzt. Kommt jetzt die Ära des Moralprimats?

Kraemer: Das ist eine bedeutende Frage, die vieles, das wir gewohnt sind, auf den Kopf stellt. Deutschland hat sich jahrzehntelang in der Rolle des Exportweltmeisters gefallen. Das Label „Made in Germany“ hatte Weltruf. Über Nacht sind wir genau wegen dieser Rolle plötzlich stark verwundbar, angreifbar und verletzlich, weil ein Großteil unseres Wachstums und Wohlstandes auf der Prämisse von fairem und freiem Handel basiert. Der neue, global zu beobachtende Protektionismus der vergangenen Jahre hat bereits erste Spuren in der deutschen Außenhandelsbilanz hinterlassen. Mit dem Brexit haben wir einen unserer größten Handelspartner in der EU verloren. Wenn wir jetzt auch noch darüber sinnieren, wo und mit wem wir aus moralischen Gesichtspunkten Exporthandel betreiben und wo nicht, schneiden wir uns nur ins eigene Fleisch.

LBBW Standpunkt: Warum?

Kraemer: Weil wir uns dann stolz im Spiegel betrachten können, aber unsere Wirtschaft ganz schnell auf das Niveau der 50er-Jahre abstürzt.

Wenn wir darüber sinnieren, mit wem wir aus moralischen Gesichtspunkten handeln – und mit wem nicht –, schneiden wir uns ins eigene Fleisch.

Moritz Kraemer, Chefvolkswirt der LBBW

LBBW Standpunkt: Zumal doch gerade die jüngere Vergangenheit gelehrt hat: mit den USA des Donald Trump Handel betreiben? In Frankreich fehlten neulich nur wenige Prozentpunkte, und aus dem guten Nachbarn des Emmanuel Macron wäre ein Europa-, NATO- und Deutschlandfeind geworden.

Kraemer: Deshalb sind solche Forderungen auch absurd. Aber wir werden sicher eine Debatte benötigen, ob zum Beispiel sicherheitsrelevante Systeme und Technologien durch Ausländer erworben werden dürfen.

LBBW Standpunkt: Sie sprechen die deutschen Netze und Huawei an?

Kraemer: Da gibt es eine ganze Reihe von Beispielen aus der Vergangenheit und auch für die Zukunft, bei denen wir mehr auf unsere eigenen Interessen pochen sollten.

LBBW Standpunkt: Ex-Außenminister und Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel hat neulich formuliert, Weltwirtschaft sei kein Puppenspiel.

Kraemer: Da hat er recht. Das unser jetziger Vizekanzler Robert Habeck nach Doha fliegen musste, um mit den Katarern über Flüssiggas zu verhandeln … Das ist doch auch jenseits seiner eigenen politischen Vorstellungskraft gewesen. Aber die Notlage zwingt dazu. Habeck hat eine bittere Kröte schlucken müssen. Und all die, die das mit einer gewissen Häme oder Kritik beobachtet haben, werden sehr schnell sehr leise werden, wenn wir alle gemeinsam die Folgen eines Gas-Embargos erleben werden, wie eingangs bereits besprochen.

LBBW Standpunkt: Können Sie uns am Ende noch etwas Versöhnliches sagen?

Kraemer: Wir müssen jetzt Vollgas geben beim Umbau der deutschen Wirtschaft. Durch die Dekarbonisierung der wirtschaftlichen Prozesse werden wir nicht nur Schritt für Schritt klimafreundlicher, sondern lösen uns auch Tag für Tag von den Abhängigkeiten. Das ist jetzt als das größte Risiko für unseren Wohlstand erkannt. Und das ist vielleicht die gute Botschaft dieses bitteren und völlig sinnlosen Angriffskriegs der Putin-Nomenklatura.